Wenn Schubladen denken könnten und einen Kehlkopf besäßen, was würden sie uns wohl erzählen? Von Liebesbriefen aus der Schulzeit, die mit den Multiple Choice Kästchen zum Ankreuzen? Sprich: Willst du mit mir gehen, “ja”, “nein” und der legendären Zeile für “wieso nicht”? Vielleicht aber auch von verstaubten Plastikblumen aus der Jahrmarkt-Schießbude? Geschossen von den mehr oder weniger begabten Liebesbriefschreibern … später vom eifrigen Nachwuchs für die liebe Mama. Wie schön!
Es könnte aber auch Ödes ans Licht kommen. Uralte Steuerbescheide, Versicherungsunterlagen, Rechnungen (die können allerdings auch manchmal zu Tränen rühren …) oder stimulierend Aufregendes, wie hübsche, duftige Seidenunterwäsche beziehungsweise sündige Lack- und Lederdessus. Andererseits auch liebestötend kratzige Monsterbuchsen, am Ende noch bremsspurstinkig – igitt! Soll ja Leute geben, die auf so etwas abfahren. Sogar astronomische Summen dafür bezahlen! Übel? Nun, schlimmer geht immer!
Zum Beispiel in der Hektik versteckte und anschließend in Vergessenheit geratene gebrauchte Kondome. Ob knatschig frisch oder in der knusprigen Trockenversion, die glückliche Finderfreude beim Aufräumen ist höchstwahrscheinlich kaum zu übertreffen! Vor allem, wenn es sich dabei um eine fremde Umzugsfirma handelt. Das übliche “brauchen Sie das noch?”, würde der Servicekraft sicher im Halse stecken bleiben. In Hotels sollen solche Funde gang und gäbe sein. Das Personal besitzt meine vollste Anteilnahme! Ich könnte das ja nicht. Alles ist eben möglich, da Schubladen adressatabhängig sind.
Doch es gibt noch eine andere Schubladen-Kategorie. Ganz genau! Die mentale! Vielleicht denkt ihr nun: ‚Na und? Da finden sich wenigstens keine ekligen, mumifizierten …‘ okay, lassen wir das Thema. Aber hey, auch die Inhalte der mentalen Schubladen haben es in sich!Nach meiner Schneiderlehre wollte ich Bekleidungsingenieurin werden. In Mönchengladbach gab es ein entsprechendes Studium. Meine Motivation ging blitzartig den Bach runter, als mir ein geschniegelter, gertenschlanker Kommilitone in der Mensa auf den Teller blickte und sagte: “Du solltest nur Rohgemüse essen. Wie willst du bei Lagerfeld oder Y. S. Laurent einen Job bekommen, wenn du figurmäßig so gar nicht ins Bild passt?“ Verdammt, ich mampfe nunmal gern (kein Wunder, dass ich einen Koch ehelichte).
Die Oberflächlichkeit dieses Kosmos ließ mich bald in den sozialen Fachbereich nach Darmstadt wechseln. Sozusagen eine “Schubladenflucht!” Ich dachte, Äußerlichkeiten seien hier egal, es ginge um Inhalte, um die Menschlichkeit, darum, zu helfen! Nichtsdestotrotz kleidete ich mich gern schick, weshalb sich ein Mitstudent, dem ich gerade einen Kaffee spendierte, bemüßigt fühlte, zu sagen: “Weißt du was? Wer so daherkommt, kann ja nicht sozial sein.” WUMS – da war sie wieder, die vermaledeite Schublade!
Fazit: Flucht ist zwecklos! Die Dinger lauern überall!
© Tanja Gitta Sattler 2022-04-11