Schuldig

Henrike Vogel

von Henrike Vogel

Story

Ich bekenne mich schuldig. Man muss die Menschen zu ihrem Glück zwingen.

Wegen mir brach die Weltwirtschaft für einen langen Moment zusammen. Die Erde hielt den Atem an. Die Welt stand still.

Es reichte nicht zu mahnen, zu verhandeln, neue Technologien zu erfinden, zu blockieren. Sich auf der Straße festzukleben, sich an Bagger zu ketten. Die Schaufeln würden niemals stillstehen, solange es noch etwas zu schürfen gab. Die Politik der kleinen, hart erkämpften Schritte war zu langsam. Der Widerstand gegen den Widerstand wuchs. Die letzten werden die ersten sein. Ich musste handeln. Nicht weil ich jung war. Ich war auch nicht links, wählte nicht die Grünen. War nicht vegan, nicht engagiert. Kein Optimist. Mein Glas war fast leer und die Kanne zerbrochen. Ich lebte vor mich hin, obwohl ich es besser wusste. Ein durchschnittlicher Mittfünfziger. Nickte innerlich der Letzten Generation zu und schimpfte, wenn ich im Stau stand. Litt, Weltschmerz, hoffte, töricht, tat nichts.

Da entdeckte jemand einen Organismus, der dazu fähig war, das Meer von ausgelaufenem Öl zu säubern. Ich war ein einfacher Chemielaborant. Machte keine Überstunden. Publizierte nicht. Machte bei allem nebenbei mit, so wie im Leben außerhalb der Arbeit auch. Gerade entwickelte ich Katalysatoren.

Man sperrte mich ins Gefängnis. Der Prozess währte nicht lang. Ich war ein Ökoterrorist.

Ich beschleunigte die Ölabsorption. Züchtete den Organismus in Massen heran. Tag und Nacht. Machte Urlaub an unmöglichen Orten. Setzte ihn aus. Er vernichtete innerhalb weniger Wochen die gesamten Erdölreserven des Planeten. Die Lüge vom Plastikrecycling hatte ein Ende.

Die Zeitungen überschlugen sich und titelten die Schlagwörter „Weltuntergang“, „Ökokalypse“, „Klimawahnsinn“, „Die große Säuberung“, „Ressourcenverschwendung“. Wer zum Teufel hatte Ressourcen verschwendet?! Wer war wahnsinnig?! Die Lettern kamen mir größer und fetter vor. Ich wurde erst im Gerichtssaal wütend. Als man mich zum hundertsten Mal fragte, warum ich es getan hatte.

Nach einem Jahr begnadigte man mich. Die Gesellschaft schrammte am Chaos vorbei. Denn es gab Alternativen. Schon lange. Heute nutzen wir nur noch eine einzige fossile Energiequelle: die lodernde Flamme der Sonne, die uns aus circa 150 Millionen Kilometer Entfernung Licht spendet und Wärme schenkt.

In einem Jahrzehnt wird man mir eine Ehrenmedaille umhängen. Ich werde ablehnen.


© Henrike Vogel 2023-06-02

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Dunkel, Hoffnungsvoll, Inspirierend
Hashtags