von Pauline Herold
Durch das dunkle Blätterdach über mir dringt kaum Licht. Man munkelt, dass hinter jedem Stamm der Tod lauert, der nur darauf warte, sein nächstes Opfer in die Finger zu bekommen. Ja, es ist ein guter Rat sich vom Wald der Gesetzlosen, der fast ein Drittel des Nord-Königreichs bedeckt, fernzuhalten. Doch so nah an den Dörfern begegnet man selten gefährlichen Wesen. Allerdings, je tiefer im Wald, desto blutrünstiger seine Bewohner, welche oftmals nicht freiwillig dort festsitzen und deshalb nach Rache dursten. Sei es auch an einem Unschuldigen.
Als ich erneut unser kleines Haus betrete, ist Rose bereits wach. Die Beine lässig übereinandergeschlagen sitzt sie an einem der Stühle und lächelt mir zu. „Wie war es beim alten Apfelbaum?“, fragt mich meine Schwester, kaum dass ich am Esstisch Platz genommen habe. Ich bin mir fast sicher, sie hätte auch ohne meine Nachricht zu lesen, gewusst, wo ich stecke. Mit meinen Händen erzähle ich ihr von dem jungen Mann namens George, der, im Nachhinein betrachtet, wohl eher zu den netteren Machos gehört. Er scheint nicht zu denen zu gehören, die derbe Witze und sexistische Bemerkungen machen.
Nachdem meine Hände das letzte Wort in die Luft gemalt hat, lächelt Rose. Sie freut sich jedes Mal, wenn ich ihr wie selbstverständlich etwas Privates anvertraue, denn seit den sieben Tagen, von denen meine Schwester und ich so tun, als hätten sie nie stattgefunden, bekommt sie öfters das Gefühl, sie verpasse irgendwas Wichtiges, was man sich durch den Unfall an den schlafenden Klippen erklären kann, und das macht sie traurig. Für mich ist Rose der wichtigste Mensch in meinen Leben und wenn sie unglücklich ist, bin ich es auch.
Der Tag ging dem Ende zu. Es dämmerte bereits und die untergehende Sonne färbte den Himmel in einem warmen Goldorange und ließ die vereinzelten Wolken am Horizont Rosa glitzern.
Ich kam gerade vom Chor, wo ich mich mal wieder mit meiner Hauptrivalin Johanna wegen eines Solos in die Haare gekriegt hatte. Die Luft schmeckte fast so süß wie Erdbeeren und ich wechselte gerade die Straßenseite, als mir plötzlich ein kalter Schauer den Rücken hinunter rieselte. Das war der Moment, in dem der Sturm auf das Dorf im immergrünen Tal traf.
Ich hörte Schreie, während Gegenstände, Äste und Steine durch die Luft sirrten. Etwas Hartes schlug gegen meinen Kopf und ich ging zu Boden. Warmes Blut rann mir über die Stirn und durchnässte mir meine braunen Haare. Färbte meine Gedanken scharlachrot. Der Wind schnitt mir scharf ins Gesicht und brannte auf der ungeschützten Haut, während ich am Boden lag und verzweifelt nach Luft rang. Unfähig mich zu rühren. Unfähig überhaupt irgendetwas zu tun.
Ein Balken krachte knapp neben mir auf den Boden, Holzsplitter flogen durch die Luft und die Erde unter mir erbebte. Wäre ich nur einen halben Meter weiter rechts gelegen, wäre ich nun tot.
Jetzt kam Bewegung in mich. Zitternd und blutverschmiert krabbelte ich auf Händen und Knien über den rauen Asphalt und kauerte mich in eine der Nischen an der Straßenmauer zusammen.
Ich kniff die Augen zu und wartete darauf, dass es vorbeiging. Dass der Horror ein Ende hatte. Dabei hatte er noch gar nicht richtig begonnen.
© Pauline Herold 2023-10-09