von Delia Pulver
„Aber…ich verstehe nicht“, stottere ich verwirrt. „Bist du nicht mein Therapeut?“ „Das war ich…bin ich theoretisch immer noch. Am Anfang haben wir im Rahmen deiner Behandlung praktisch jeden Tag miteinander verbracht. Wir kamen uns immer näher und irgendwann konnten wir unsere Gefühle nicht mehr verbergen. Wir waren vier Monate lang ein Paar, als wir beschlossen, dass ich meine Kündigung einreichen werde. Einen Tag später bekam ich den Anruf, dass du in der Klinik bist. Ich wusste, dass ich dir nur helfen kann, wenn ich dein Therapeut bleibe. So hatte ich Zugang zu dir“, erklärt er. „Ich kann mich nicht erinnern“, bringe ich hervor. „Ich weiß.“ Sein Lächeln ist betrübt. „Ich weiß nicht, ob du dich je wieder erinnern wirst. Aber ich kann es und ich verspreche, dass ich dir von nun an nichts mehr verheimlichen werde. Wir schaffen das zusammen.“ Überzeugung schimmert in seinen Augen. „Kannst du mir verzeihen?“, fragt er demütig. „Alex…“ „Bitte Ellie! Bitte gibt uns eine Chance.“ Ich blicke auf das Foto in meiner Hand und wünsche mir so sehr, dass das meine Realität wäre. „Das sind wir. Du und ich. Damals wie heute“, spricht Alex, als könne er meine Gedanken lesen. „Was, wenn ich die ganze Wahrheit nicht verkrafte?“ Meine Stimme ist zittrig. „Ellie, du bist der stärkste Mensch, den ich kenne. Und ich bin für dich da. Nicht als dein Therapeut, sondern als dein Freund, dein Partner, dein…“ „Seelenverwandter“, vollende ich seinen Satz und Alex‘ Augen leuchten überrascht auf. „Du erinnerst dich.“ Seine Hand greift nach dem Foto und er dreht es um. Meine Augen gleiten über die Schrift auf der Rückseite. Freunde, Partner, Seelenverwandte. „Nur daran. Aber ja, ich erinnere mich.“ Ich kann nicht anders als zu lächeln und mich an Alex‘ Hand zu schmiegen, die liebevoll über meine Wange streicht.
Sechs Monate später. „Ich bin so froh, dass ich ihn habe, Lara. Es tut gut, sich von anderen abgrenzen zu können und nur Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.“ Ich sitze auf dem Sofa in unserer Wohnung und spreche zu Laras Foto, das wir hier aufgestellt haben. Es ist ein Ritual, das mich beruhigt und mir das Gefühl gibt, ihr nahe zu sein. „Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich hätte die Pillen nicht schlucken sollen. Ich weiß jetzt, dass meine Zeit noch nicht gekommen ist und ich genieße das Leben nun in vollen Zügen. Das würdest du bestimmt so wollen“, spreche ich weiter. „Und du auch“, lächle ich dem Bild von Alex‘ bestem Freund entgegen, das seinen Platz neben dem von Lara gefunden hat. „Sprichst du wieder mit Geistern?“, ertönt Alex‘ Lachen hinter mir und ich drehe mich zu ihm. „Na, wenigstens antworten sie mir mittlerweile nicht mehr“, gebe ich zurück. Erst seit kurzem kann ich mit einigen Geschehnissen des letzten Jahres humorvoll umgehen. Die Zeit, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war sehr schwer. Doch Alex war immer für mich da, wenn ich ihn brauchte. Nun wohnen wir zusammen in unserer ersten gemeinsamen Wohnung. Alex hat mittlerweile eine eigene Praxis eröffnet. Er hat bereits einige Patienten und ich werde nächstes Semester mein Studium fortsetzen. „Komm Kleines. Ich hab uns was gekocht“, winkt er mich zu sich rüber und ich laufe auf ihn zu, bevor ich meine Arme um ihn schlinge. „Danke, dass du mich nicht aufgegeben hast“, raune ich und Alex küsst mich auf die Stirn. „Danke, dass du dich nicht aufgegeben hast“, lächelt er zurück und unsere Lippen verschmelzen miteinander.
© Delia Pulver 2023-09-08