So schnell stirbt es sich nicht

Anne Michel

von Anne Michel

Story


Das sagt sich so leicht dahin.

Ich fühle, dass ich sterbe. Jetzt in diesem Augenblick, in dieser Sekunde. Ich verspüre eine Todesangst, wie man sie sich schrecklicher nicht vorzustellen vermag. Der Blick ist durch einen roten Schleier getrübt, irrt durch den Raum. Nirgends findet er mehr Halt. Der Boden schwankt, die Wände drehen sich immer schneller. Lichtblitze zucken in den Augen. In meinem Kopf dröhnt es, als würde jemand mit einer Schlagbohrmaschine darin Löcher bohren. Der Hals ist eng, wie zugeschnürt, ich kriege keine Luft. Das Atmen fällt mir schwer, die Brust ist wie von einem Eisenring umschlossen. Der Herzschlag trommelt am Anschlag. Schauer, abwechselnd kalt und heiß, überlaufen mich in Schüben. Der Magen krampft sich zusammen und erzeugt einen gallenbitteren Geschmack in der Mundhöhle. Die Blase und der Darm melden sich mit fordernder Dringlichkeit. Ich muss schnellstens zur Toilette. Aber wie? Meine Beine tragen mich nicht mehr. Ich bin nicht in der Lage, auch nur einen Fuß vor den anderen zusetzen.

Angst und Verzweiflung macht sich breit. Wo ist das verdammte Telefon? Ich brauche Hilfe, jetzt, sofort! Ich bin allein, mutterseelenallein. Oh mein Gott, so fühlt es sich also an, wenn man stirbt. Die Panik hat mich fest im Griff. Wieder einmal! Wie ein wildes Tier hat sie mich heimtückisch, aus dem Hinterhalt heraus unvermittelt angegriffen. Sie schüttelt mich wie einen nassen Sack und verwandelt mich in ein machtloses, zitterndes Bündel Mensch. Atmen! Eine leise Stimme durchdringt den schwarzen Panzer der Hilflosigkeit. 4 Sek. durch die Nase einatmen, 7 Sek. die Luft anhalten, und dann, 8 Sek. durch den Mund ausatmen, fordert sie mich nachdrücklich auf. Ich folge dem Rat und absolviere wie im Trance die Atemübung. Atme ruhig mit geschlossenen Augen ein und aus. Allmählich komme ich zurück in eine Phase, in der ich selbst zu agieren vermag.

Parasympathikus hat die Oberhand zurückerobert und Sympathikus hat, zumindest vorerst, seine Tätigkeit auf ein vernünftiges Maß reduziert. Endlich denke ich wieder halbwegs normal. Leise vor mich hin schluchzend erkenne ich, dass ich, zum wiederholten Mal, «nur» eine Panikattacke hatte. Und zwar eine ausgesprochene Heftige. Aber leider sind mir Panikattacken auch in dieser Größenordnung nicht unbekannt. Deshalb bin ich in der Lage, mir nachdrücklich ins Gedächtnis zu rufen, dass ich alle diese Attacken, egal wie schrecklich sie waren, überlebt habe.

Der Satz, «so schnell stirbt es sich nicht», kommt mir in den Sinn. Direkt im Anschluss daran, der Kommentar eines wohlmeinenden Zeitgenossen, der da lautete: «An einer Panikattacke ist noch niemand gestorben». Ich raffe mich auf, gehe mit schleppenden Schritten zur Toilette. Ich falle nicht um. Ich werde nicht ohnmächtig. Ich sehe wieder klar. Die Wände drehen sich nicht mehr im Kreis und der Boden ist fest verankert, wie eh und je.

Auch dieses Mal bin ich nicht gestorben. So schnell stirbt man nicht.

© Anne Michel 2021-11-13

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