von Vera Broszeit
Die Hitze lag drückend über dem See, die Wasseroberfläche reflektierte die Sonnenstrahlen in einem ungünstigen Winkel, der Yuri die Augen zusammen kneifen ließ. Eine einzelne Libelle surrte an ihm vorbei und löste mit ihren zuckenden Beinchen dutzende kleine Wellen aus. Yuri rutschte träge ein Stück nach hinten, um der wandernden Sonne auszuweichen und weiter im Schatten der riesigen Weide zu bleiben. Er drehte sich nach den anderen um. Pit lag auf dem Rücken, die Beine ausgestreckt, sein Oberkörper frei von jeglicher Kleidung. Er schien zu schlafen, sein Brustkorb hob und senkte sich flach. Cleo und Nathan saßen an den Baumstamm gelehnt und unterhielten sich leise. Ihre Haut war braun von der ständigen Sonne, ihre Körper waren sehnig, denn selbst das Essen war bei dieser Hitze anstrengend und jede Bewegung erforderte mehr Muskelkraft als sonst.
Yuri liebte den Sommer und die Ferien. In diesen wenigen Wochen war er frei von allem. In diesen Tagen am See fühlte er sich ungebunden und erwachsen. Als würde die Hitze die Zeit zum Schmelzen bringen, vergingen die Tage hier langsamer. Hier an diesem See war er nicht Yuri, der Sohn einer trauernden Mutter. Er war hier kein mittelmäßiger Schüler oder einer der wenigen aus seiner Klasse, die noch nie mit einem Mädchen zusammen waren. Hier war er Yuri, der beste Taucher, wenn einem der anderen eine Trinkflasche ins Wasser fiel und unterzugehen drohte. Er war Yuri, dessen Arme ganz zerkratzt waren, weil er sich durch das dornige Gestrüpp kämpfte, um Brombeeren für alle zu sammeln. Er war Yuri, auf dessen Gepäckträger Cleo mitfahren wollte, als ihr Fahrrad einen Platten hatte.
Er wusste, dass die Tage irgendwann wieder kürzer werden und die Temperatur sinken würde. Dass seine Mom dann wieder öfter weinen und Mark ihn auf dem Schulklo wieder in eine der Kabinen sperren würde. Und dass Pit Mark dann wieder drohen und die beiden sich fast prügeln würden und Yuri würde hinter der Klokabinentür hocken und sich hilflos fühlen und gleichzeitig froh sein, hier drinnen eingesperrt zu sein, denn so musste er sich da draußen nicht beweisen und alles noch schlimmer machen, als es schon war.
Cleo und Nathan waren aufgestanden und liefen an ihm vorbei Richtung See „Nun komm schon Yuri!“, rief Nathan und noch bevor Yuri aufgestanden war, verschwand er mit einem gezielten Sprung unter der Wasseroberfläche. Cleo stand knietief im Wasser und schaute ihn auffordernd an. „Was ist mit dir?“, fragte sie. Langsam ging er auf sie zu. Er spürte das Gras unter seinen Füßen. Er schaute nicht, wo er hintrat, er sah Cleo an und vertraute darauf, gleich bei ihr im Wasser zu stehen und genauso passierte es. Cleo lächelte ihn an, drehte sich um und watete tiefer in den See, er folgte ihr. Nathan war wieder aufgetaucht und rief: „Pit, wach auf und komm auch rein! Das Wasser ist herrlich!“ Pit bemühte sich nicht einmal, seinen Kopf zu heben. „Später. Bin viel zu müde und Zeit zum Schwimmen hab’ ich noch genug. Der Sommer ist noch ewig.“
© Vera Broszeit 2022-08-15