Sonnenstrahlen einfangen

Martina Huemer

von Martina Huemer

Story

Ich liebe es, morgens vor dem Sonnenaufgang am Meer zu stehen und die Momente des erwachenden Tages zu genießen. Vor 25 Jahren zeigte mir Frédéric Leboyer einige Tai Chi Übungen, die ich seither praktiziere. Sie erinnern mich an diesen wunderbaren Menschen und Geburtshelfer, an den Begründer der “sanften Geburt”, die niemals sanft sein kann. Ich traf Prof. Leboyer acht Wochen vor der Geburt unseren ersten Kindes. Er konnte mir soviel Wissen und Weisheit auf meinem weiteren Weg als Gebärende und Mutter mitgeben.

Die Zeit vor dem Sonnenaufgang ist wie ein Innehalten. Ganz still ist es am Strand. Es ist wie das Gewahrwerden, dass ein neuer Tag geboren wird. Ich mache Pausen, atme die Stimmung ein und aus. Die sanften Wellenbewegungen begleiten mich dabei. Während der fließenden Bewegungen steigt die Sonne ganz langsam aus dem Meer auf. Es ist, als würde das Meer die Sonne gebären. Zuerst ist es nur ein kleiner Punkt, der sich nach und nach zu seiner wahren Größe entfaltet. Orangefarben steigt die Sonne auf, bis sie sich vom Meer scheinbar trennt und als runde Kugel am Horizont erscheint. Die Farben am Horizont verändern sich, das neue Licht des Tages erhellt ihn. Die ersten Sonnenstrahlen spiegeln sich auf der Meeresoberfläche, die Wellen tragen sie an Land. Morgens ist das Meer so sanft. Es sind mystische Momente. Mit der Übung “die Wolken streicheln” beende ich das morgendliche Ritual am Meer. Die Sonne habe ich – mit gestreichelt.

Abends verabschiede ich mich von der Sonne. Hinter dem Gebirgszug von Torremolinos ist die Sonne bereits untergegangen, der drei Kilometer lange Sandstrand liegt im Schatten. Am angrenzenden Hafen von Benalmadena scheint sie noch, es ist – als würden die Sonnenstrahlen den Hafen erleuchten, während es rundherum bereits Abend wurde. Ich laufe der Peer entlang, blicke auf die Wellenbrecher und auf die Weite des Meeres. Ich erinnere mich an eine hawaiianische Geschichte. Auf dem 2000 m hohen Berg auf Maui scheint die Sonne länger. Es ist ein ruhender Vulkan und heißt Haleakala, das bedeutet übersetzt “Haus der Sonne”. Der Legende nach hat einst Gott Maui die Sonnenstrahlen auf dem Berg eingefangen und fest gebunden, und seither scheint sie hier etwas länger.

Ich sitze auf der Peer, angelehnt an den Leuchtturm. Ich lasse den Tag in Gedanken vorüberziehen, ich erinnere mich an viele Abende, an denen ich die ersten und die letzten Sonnenstrahlen des Tages einfing. Es sind wirklich viele, die sich in das Buch meines Lebens einschrieben. Dankbar lese ich in meinen Erinnerungen. Dankbar bin ich für diesen Tag. Dankbar freue ich mich – auf den nächsten Sonnenaufgang.

Vielleicht sind uns die Anzahl der Sonnenauf- und untergänge vorherbestimmt. Es liegt an mir, die Zeiten vom Anfang bis zum Ende sinnvoll zu gestalten. Ich bin dankbar für die Erdenzeit.

© Martina Huemer 2023-03-12

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