von Harald Wieser
Stefan war von Anfang an eher so der ruhige Typ. Man saß mit Stefan in der Gemeinschaftsküche und schwieg. Stefan lief gerne und er spielte gerne Fußball. Wir haben damals viel Party gemacht. Janosch war dabei und Andi, die kannten Stefan schon länger. „Der ist halt so“, sagten sie immer. „Musst dir nichts dabei denken“, sagten auch Georg und Chris, die anderen aus unserer Küche. Party gemacht hat Stefan nie so viel wie wir. Stefan hatte immer nasse Hände und aß gerne Teewurst. Nass waren seine Hände nicht vom Schweiß, sondern, weil er sie so oft gewaschen hat, ohne sie hinterher abzutrocknen. Jedenfalls haben wir damals ziemlich auf die Pauke gehauen. Erst später hat Georg mir alles geschrieben. Wie das noch war im Spätsommer, was so alles passiert ist, als ich schon längst wieder zu Hause war: Die Jungs sind an die Ostsee gefahren. Sie wollten ein paar Tage am Meer verbringen, bevor die Uni wieder losging. Sie hatten sich ein Haus gemietet, zu fünft war das ja gar nicht teuer. Stefan war mit dabei. So wie er eben immer dabei war. Unauffällig unscheinbar. Doch schon in der zweiten Nacht war Stefan seltsam. Sie saßen alle auf der Terrasse und Stefan wäre wohl die ganze Zeit über unruhig gewesen. Hätte plötzlich begonnen vor sich hin zu stammeln. Er habe alles falsch gemacht, auch das Studium. Er sei dann auf einmal in die Küche gerannt, hätte sich ein Messer geholt und aus dem Haus gestürmt. Janosch hinterher. Stefan wollte Janosch nichts tun, nur sich selbst. Janosch konnte Stefan irgendwie überwältigen und ihm das Messer abnehmen. Sie hätten einen Krankenwagen gerufen und Stefan einliefern lassen. Es würde schon alles wieder gut werden. Was dann passierte, das konnte ja keiner ahnen: Im Krankenhaus glaubten alle, Stefan wäre endlich zur Ruhe gekommen. Die Krankenschwester, die nach ihm sehen wollte, hatte das auch gedacht. Stefan hat sie völlig überrumpelt. Die Frau hatte keine Chance. Immer wieder hätte er gebrüllt, er habe alles falsch gemacht und das Studium könne er vergessen. Stefan stand nur wenige Prüfungen vor seinem Abschluss zum Wirtschaftsinformatiker. Er ist dann auf die Straße gelaufen und hätte ein Auto angehalten. Der schmächtige, sonst so schüchterne Stefan hatte den Fahrer aus seinem Wagen gezerrt, sich ans Steuer gesetzt und ist mit über 110 km/h gegen eine Wand gefahren. Wenn einer nicht mehr will, hatte die Schwester im Krankenhaus gesagt, dann entwickelt er übermenschliche Kräfte. Den kann keiner mehr stoppen. So war das auch bei Stefan. Erst jetzt, nachdem ich Georgs Brief gelesen hatte, begann ich nachzudenken. An den Wochenenden und Feiertagen ist Stefan nie nach Hause gefahren. Seine Eltern hatte er nie erwähnt. Mit keinem Wort. Häufiges Händewaschen ist ein Symptom, das bei Misshandelten öfters auftritt. Sie wollen sich damit reinwaschen. Stefan hat nie darüber geredet. Stefan hat sich selbst noch die Schuld an dem gegeben, was ihm angetan worden war. Stefan gibt es nicht mehr.
© Harald Wieser 2021-02-26