von AlfonsX
Von allen Erfahrungen, die ich als Jugendlicher gemacht habe ist mir die Zeit auf dem Autodrom am stärksten in Erinnerung geblieben. Dort habe ich meine Liebe zum Autofahren entdeckt und meine ersten Erfahrungen mit dem Reparieren und Auftunen von Fahrzeugen gemacht. Das Gelände war etwas größer als ein Fußballfeld und grenzte an einer der Längsseiten direkt an den Mauerstreifen. Dadurch dass es privater Grund und Boden war, durfte man ganz legal ohne Führerschein Auto und Motorrad fahren. Viele haben dort ihre erste Fahrstunde gemacht. Die Preise waren moderat, eine Stunde Autofahren kostete damals 5 Mark.
Das Gelände war wie ein riesiger Abenteuerspielplatz für Heranwachsende. Die Fahrstrecke gebaut wie ein Rennkurs, mit unzähligen Kurven, Hügeln und einer Zielgeraden. Natürlich gab es eine Geschwindigkeitsbegrenzung, kaum einer hielt sich aber daran.
Es gab Schuppen die als Werkstätten verwendet wurden und andere die als Schrottlager dienten. Täglich kamen neue alte Autos rein und täglich holte der Schrotthändler die fahruntüchtigen Verhikel ab, von denen wir nicht wenige nur so aus Spaß völlig zu Schrott gefahren haben.
Der Bruder von einem aus unserer Clique war mit dem Pächter bekannt. So konnten wir uns dort unbegrenzt aufhalten und bezahlten auch nicht. Harry Toste wohnte auf dem Gelände und war mit Abstand die exzentrischte Figur die ich bis dahin gesehen hatte. Kurze Hosen, Strapse, lange rote Wollstrümpfe und schulterlanges, grüngelbes Haar waren seine Markenzeichen. Er war damals schon Mitte siebzig, ein Berliner Original um das sich unzählige Geschichten rankten. Angeblich war er mehrmals Millionär und dann wieder ganz unten, war Besitzer von Diskotheken und organisierte Travestie-Shows. Mit Romy Haag und Rolf Eden war er eng befreundet.
Wie auch immer, außer Ralf, der ihn als einziger näher kannte, fanden wir ihn damals allesamt lächerlich in seiner Aufmachung aber da er uns gewähren ließ und nie Vorschriften machte, akzeptierten wir ihn. Im Übrigen: sein Lebenswandel bescherte ihm ein hohes Alter. Straps Harry wurde 97.
Zwischen meinem 16. und 18. war ich fast täglich dort auf dem Gelände. Immer wieder tauchten auch gestohlene Autos auf. Diese wurden ausgeschlachtet und verschwanden dann auf Nimmerwiedersehen in der Presse, die Teile verkauften wir gewinnbringend. Zum Glück kam das nicht zu häufig vor sonst hätten die Bullen den Laden noch zugemacht.
Durch die Mauernähe kam es auch manchmal zu Kuriositäten. Einmal hatten wir auf dem Fernsehschirm die Kamera, die von der Ostseite her auf den Todesstreifen gerichtet war.
Mitte der achtziger war der Pachtvertrag abgelaufen und das Gelände wurde zur historischen Stätte. Das Museum „Topografie des Terrors“ wurde darauf erbaut, war doch nur einen Steinwurf entfernt auf der anderen Seite der Mauer, mit dem Reichssicherheitshauptamt und anderen Gebäuden auch die Zentrale der Gestapo gewesen.
Gutes altes Autodrom, ich vermisse die Zeit.
© AlfonsX 2020-05-05