Tage des Schriftstellers: Ewige Überarbeitung

Kreative-Schreibwelt

von Kreative-Schreibwelt

Story

Endlich war es geschafft: Meine Geschichte war fertig. Ich lehnte mich im Café-Stuhl zurück, nippte an meinem Latte macchiato und bewunderte das Wort »Ende« auf dem Bildschirm. Es fühlte sich gut an – für etwa fünf Minuten. Dann fing es an zu jucken. Ist der Anfang wirklich stark genug? Klingt dieser Dialog nicht hölzern? Und was ist mit dem Adjektiv in Satz drei – zu viel?

Ich seufzte und öffnete das Dokument erneut. »Nur ein paar kleine Korrekturen«, versprach ich mir. Ich ersetzte »stürmisch« durch »tosend« und strich ein überflüssiges »plötzlich«. Schon besser. Aber dann fiel mir auf, dass die Beschreibung der Hauptfigur zu vage war. Ich fügte eine halbe Seite über ihre Kindheitstraumata hinzu – tiefgründig, oder? Doch jetzt passte der Mittelteil nicht mehr. Also schrieb ich eine neue Szene, in der sie einen mysteriösen Fremden trifft. Plötzlich war meine Kurzgeschichte doppelt so lang und hatte einen völlig neuen Handlungsstrang.

»Was machst du da?«, fragte Max, der gerade mit einem Cappuccino an meinen Tisch trat.

»Ich überarbeite«, murmelte ich, ohne aufzusehen.

»Du hast doch gesagt, die Geschichte ist fertig.«

»War sie auch. Aber jetzt ist sie besser. Glaub’ ich.«

Max warf einen Blick über meine Schulter. »Du hast den mysteriösen Fremden wieder eingefügt? Ich dachte, du wolltest ihn streichen, weil er zu klischeehaft ist.«

»Habe ich auch. Aber dann fand ich, dass er der Story Tiefe gibt.«

»Tiefe oder Verwirrung?«, fragte Max trocken.

Ich ignorierte ihn und las den neuen Absatz nochmal. Hm, vielleicht hatte Max recht. Der Fremde wirkte deplatziert. Also strich ich ihn wieder und kürzte die Kindheitstraumata. Jetzt war die Geschichte fast so wie vorher – nur dass ich drei Stunden älter und zehnmal frustrierter war.

»Weißt du was?«, sagte Max und riss mich aus meinen Gedanken. »Du bist wie ein Maler, der sein Bild immer wieder übermalt, bis nur noch ein grauer Fleck übrig ist. Irgendwann musst du aufhören.«

»Aber was, wenn es noch nicht perfekt ist?«

»Perfektion gibt’s nicht. Schick sie ab, sonst verbringst du dein Leben mit einer einzigen Geschichte.«

Ich starrte auf den Bildschirm. Max hatte recht. Die Geschichte war gut – nicht perfekt, aber gut. Und manchmal musste das reichen. Ich speicherte die Datei, klappte den Laptop zu und grinste Max an. »Okay, ich bin fertig. Für heute.«


© Kreative-Schreibwelt 2025-04-23

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Komisch, Hoffnungsvoll
Hashtags