Tote reden länger

Sabine M. Geiger

von Sabine M. Geiger

Story

Zuerst möchte ich festhalten, dass ich nicht wirklich esoterisch veranlagt bin. Ich spüre keine Geister um mich, habe noch nie an einem spirituellen Channeling teilgenommen und beim Tischleinrücken im Schullager haben wir uns alle zu Tode gefürchtet, nur weil jemand seine Finger an dem verflixten Wasserglas nicht stillhalten konnte. Bei übernatürlichen Wesen glaube ich am ehesten noch an Schutzengel, weil ich meinen anscheinend durchaus schon ab und zu bemüht habe, da mir trotz meines kindlichen Übermutes nichts Ernstes passiert ist.

Im Alter von 19 Jahren saß ich am Sterbebett meiner Mutter. Ohne nachzudenken oder es kontrollieren zu können, sagte ich plötzlich zu meiner Schwester: „Mir kommt vor, die Mama schaut uns zu.“ Meine Schwester blickte auf die Plastikschläuche, welche Opiate und Flüssigkeit in den ausgelaugten Körper unserer Mutter pumpten, auf den blinkenden und piepsenden Intensiv-Monitor und dann mich an, als ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Daran zweifelte ich in diesem Moment selber.

Es kam wie es bereits absehbar war, wenige Tage später beerdigten wir unsere Mutter. Ich stand dabei und gleichzeitig neben mir, als ob ich mich selber beobachten würde. Nach der ersten Zeit der unaussprechlichen Traurigkeit, der unbeschreiblichen Verzweiflung und der unbändigen Wut, hörte ich in einem stillen Moment in mich hinein und stellte meiner Mama eine Frage. Und überraschenderweise bekam ich eine Antwort. Ich wusste genau, was sie gesagt hätte, als hätte sie mir höchstpersönlich geantwortet.

Das ist bereits über fünfundzwanzig Jahre her – und es funktioniert immer noch. Vielleicht muss ich meine anfängliche Feststellung über meine esoterische Ader also doch noch einmal überdenken.

Ich weiß, meine Mama war voller Freude bei meiner Hochzeit dabei, sie war wirklich glücklich, als unsere Kinder zur Welt kamen. Und wenn ich kurz vor dem Verzweifeln und ganz knapp vor dem Ausrasten bin, weil mich unser Nachwuchs zur Weißglut treibt, dann höre ich meine Mama lachen, fast so als wollte sie sagen: „Wie du mir, so ich dir.“ Ich weiß, sie ist stolz auf mich, weil ich tue, was ich tue, weil ich habe, was ich habe und vor allem weil ich bin, wer ich bin.

Und ich freue mich unbändig, dass man manche vertraute Stimme nicht verliert, selbst wenn man sie nicht mehr hören kann.

Bild: Rey Anipan / unsplash.com

© Sabine M. Geiger 2020-08-24

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