von Anne Klisch
Mit geübten Bewegungen löste er die Fesseln von meinen Beinen und zerrte mich von der Ladefläche. Er wurde kurz langsamer, damit sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnen konnten. Ich hatte dieses Problem nicht. Die Augen einer Computer- Nutte waren bedeutend schneller als die eines idiotischen Fleischsacks. Mit aller Kraft, die ich noch hatte, rammte ich ihm die Schulter in den Brustkorb. Ich war nicht stark, doch ich hatte den Überraschungsmoment auf meiner Seite. Er keuchte und taumelte kurz. Sein Griff um meinen Oberarm lockerte sich. Ich riss mich los und rannte, so schnell ich konnte die Straße hinunter. Doch ich kam nicht weit. Die zusammengebundenen Arme auf meinem Rücken schränken mich stark ein. Und nach kaum zweihundert Metern krachte etwas Schweres in meinen Rücken. Ich schrie auf und stürzte hart auf den Boden. Die Silikonschicht an meinen Knien und an meinem Brustkorb platzte auf. Kabel rissen und Funken sprühten. Doch der Mann, der auf meinem Rücken kniete, ließ sich nichts anmerken. Fluchend riss er an meinem Oberkörper. Wenn ich Schmerzen hätte fühlen können, hätte er wahrscheinlich mein Gesicht auf dem harten Teer zertrümmert. Mich immer wieder an den Haaren nach oben gerissen. Aber ich war nur ein dummer Computer. Die Mühe konnte er sich also sparen. Wahrscheinlich würde er seine Wut heute Abend an irgendeinem armen Mädchen in einem der vielen Bordelle auslassen.
„Kleines dreckiges Stück Scheiße!“, fluchte er, während er mich schließlich umdrehte. Es war der zweite. Mack. Seine Hände bluteten und seine Jeans war an den Knien zerrissen. Laut atmend kam Bram hinter ihm in Sicht. Er machte ein entsetztes Gesicht.
„Eigentlich hatten wir vor, dich auszuschalten, bevor wir dich auseinander bauen. Aber jetzt darfst du live dabei sein, bis deine scheiß Energiezelle den Geist aufgibt.“
„Oh Mädchen..“
„Halt die Klappe Bram und hol mir die Zangen!“
Mack saß breitbeinig auf meiner Hüfte und beugte sich mit ekelerregendem Blick nach vorne. Keine Träne rann ihm über das Gesicht, obwohl das doch ein Symbol für Menschlichkeit sein sollte. Es war nur Speichel, der in langen Fäden von seinen Lippen auf mein geschundenes Dekolleté tropfte.
„Wenn deine scheiß Stirnplatte keine sieben Riesen wert wäre, hätte ich sie dir schon längst eingeschlagen“, zischte er und grinste widerlich, bevor er in hämisches Gelächter ausbrach.
Obwohl ich keinen Schmerz spüren konnte, hatte ich furchtbare Angst. Ich schämte mich. Wenn Wesen wie ihm die Menschlichkeit einfach so zugestanden wurde, würde es diese Welt nicht mehr lange machen. Neue Tränen quollen unter meinen Augen hervor. Ich versuchte nicht, sie weg zu blinzeln. Er sollte sie ruhig sehen. Sie waren für ihn.
Tränen für die Menschlichkeit.
© Anne Klisch 2022-05-20