Tschiiiep

Bernd Schreiber

von Bernd Schreiber

Story

Jedes Jahr im Juni passiert’s, ich kann die Uhr danach stellen. Im Dach tschiiiept’s in einem Meisennest. Das Gefiepse ist unĂŒberhörbar und schwillt noch an, wenn sich ein Elternteil – im Dauerversorgungsmodus fliegend – mit Beute nĂ€hert. Absolut ruhig sind die Jungen nur, wenn ich vorbeigehe.

So auch in diesem Jahr. Ich passiere das Nest. Stille. Plötzlich doch ein „Tschiiiep“. Nanu, hat einer nicht aufgepasst? Das Tschiiiepen kommt aber aus dem Baum auf der anderen Seite. Ein Jungvogel sitzt etwas unglĂŒcklich vor mir auf einem Ast, offensichtlich schlechter Laune (s. Foto). „Na, wie kommst Du denn hierher?“ Die Frage ist eher rhetorisch und ich erwarte nicht wirklich eine Antwort, deshalb mutmaße ich weiter:

„Hast den dicken Max vor Deinen Geschwistern markiert, von wegen Du kannst das. Also bist Du auf den Nestrand, die Alten machten es Dir draußen in der Luft vor und die Nesthocker-Geschwister meinten „Traust Dich nicht“. Kneifen ging nicht und vielleicht hat Dich noch einer von hinten geschubst, jedenfalls ging’s ab, nicht so richtig im Flug, mehr im Sturzflug, ein Absturz. Und jetzt sitzt Du hier.“

Er widersprach nicht.

„Und, hast Du einen Plan? Wie soll das weitergehen? Die Insekten und WĂŒrmer fliegen und krabbeln Dir doch nicht einfach in den Schnabel.“

Er machte „Tschiiiep“, Muttern kam und schob ihm was Lebendiges in den Schnabel. Sein Blick sagte mir: „Siehste, geht doch!“ Okay, die Versorgung aus der Luft klappte, aber trotzdem war das doch keine Lösung. Ich wollte ein Foto machen, musste mein Handy holen und bat ihn: „Flieg in der Zwischenzeit nicht weg, hihi.“ Er hĂ€tte bestimmt „Blödmann“ gesagt.

Als ich zurĂŒckkam, flatterte Muttern vor ihm in der Luft und zeigte ihm wie‘s geht: „So, so musste das machen!“ Er mĂŒhte sich redlich, aber es war mehr ein zentimeterhohes HĂŒpfen auf dem Ast als ein Fliegen.

Ich hĂ€tte ihm gerne erklĂ€rt, dass seine FlĂŒgel noch verklebt und zu klein im Vergleich zu seinem Körperumfang aussahen. Direkter: Er war zu fett und sollte vielleicht einige VersorgungsflĂŒge auslassen und nur jeden zweiten annehmen.

Er sah geschafft aus und schien davon auszugehen, dass er den Rest seines Lebens auf diesem Ast verbringen wĂŒrde. Er trippelte seitwĂ€rts bis zum Stamm und ich dachte schon, er wĂŒrde sich vor Erschöpfung gleich dagegen lehnen und einschlafen. Falsch gedacht: Er plusterte sich auf, sammelte sich, nahm optisch plötzlich ab, startete mit wilden FlĂŒgelschwingen einen neuen Versuch und 
 schaffte es in einer Art Flug auf den nĂ€chsten Ast. Bravo, wir waren alle begeistert. Mutter zwitscherte zustimmend und oben krakeelten die Geschwister Beifall aus dem Nest. Mutter flog nochmal zu ihm und entfernte wohl den Klebstoff zwischen seinen FlĂŒgeln. Anschließend flatterte sie nochmal Muster vor ihm, aber das brauchte er nicht mehr. Beim nĂ€chsten Versuch schaffte er es schon fast sicher bis in den nĂ€chsten Baum.

So bin ich innerhalb von einer halben Stunde Zeuge geworden, wie jemand flĂŒgge wird.

© Bernd Schreiber 2022-08-27

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