von Wortakrobatin
Ich reise gerne und viel – am liebsten in weit entfernte, mir noch unbekannte Welten. Mit Menschen, die ich am Weg treffe, ergeben sich oft die außergewöhnlichsten Gespräche. Andere hingegen wiederholen sich, z. B. werde ich regelmäßig gefragt: „If you could choose – what superpower would be your favorite?“ Welche Superkraft ich gerne hätte? Naja, unsichtbar zu sein wäre es jedenfalls nicht. Das kann ich nämlich schon. Ich wollte viel lieber fliegen können. Nicht wie ein Vogel mit Flügeln, sondern wie Peter Pan. Mühelos, mit waghalsigen Manövern, vor Freude jauchzend und einfach durch die Kraft der Imagination.
Oder Zeitreisen. Allerdings nie in die Zukunft, dafür schlägt mein Herz zu sehr für Nostalgie. Mäuschen spielen, während Napoleon seiner Josefine einen sehnsuchtsvollen Liebesbrief schreibt oder sich mit Anne Boleyn, Marie Antoinette oder Sophie Scholl unterhalten, um zu erfahren, woran sie in ihren letzten Tagen vor ihrem Tod dachten. Was empfanden sie, als sie noch auf derselben Welt lebten, wie wir heute? So viele Schicksale, so viel(e) Leben fanden auf unserer Erde schon statt. Ist das nicht unheimlich interessant?
Ob ich ein neugieriger Mensch bin? Und ob!
His-Story oder Her-Story
Wie lange schrieb Napoleon an einem Brief an Josefine? Minuten, Stunden oder gar Tage? Kratzte die Feder am Papier oder gleitete sie mühelos über die Seiten, so wie mein dukelrosa Faserstift in diesem Moment? Wie oft musste er absetzen und die Feder nachtunken? Dauerte das lange? Entschwanden während dieser Unterbrechung manchmal liebevolle oder besonders pointierte Formulierungen? Hatte er überhaupt das, was wir heute unter „Me-Time“ verstehen oder konnte jederzeit jemand in sein „Homeoffice“ platzen? Stand die ganze Zeit über ein Lakai an seiner Tür und wenn ja – wie konnte er sicherstellen, dass dieser keine mitangehörten Gespräche ausplauderte?
Von Anne Boleyn, Marie Antoinette, Sophie Scholl und so vielen weiteren Frauen würde ich gerne wissen, wie sie so erhaben und unerschrocken vor ihre Scharfrichter treten konnten. Wie konnten sie nicht vor Wut ob der Ungerechtigkeit verrückt werden? Fragten sie sich, ob ihr Name in die Geschichte eingehen und diese die Wahrheit über sie erzählen würde? Sie mussten doch fast davon ausgehen, dass dem nicht so sein wird, oder? Geschichte wird von den „Siegern“ geschrieben, nicht von den Verlierern und schon gar nicht den Verliererinnen. Mit Fakenews wie dem Zitat: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen!“ wird bis heute Antoinettes Charakter beschrieben.
Es erscheint mir fast … anmaßend mich zu fragen, ob diese Frauen über die Welt nach ihnen nachdachten. Doch eben – worüber dachten sie nach? Noch dazu fremdbestimmt in Gefangenschaft? Was empfanden sie?
Eine ganz andere Frage, die mich beschäftigt, ist:
Wie viele unsichtbare Frauen gibt es in der Geschichte der Menschheit?
Und wer sind die unsichtbaren Frauen der Gegenwart?
Bin ich eine von ihnen?
© Wortakrobatin 2022-01-23