von Ümit Mares
Heute Nacht ist es wieder so weit, wir werden uns zu viert in unser bis zum letzten Winkel angefülltes Auto setzen und Richtung Türkei losfahren! Flugtickets sind Mitte der 80er Jahre noch unerschwinglich, daher ist es klar, dass wir mit dem Auto über die sogenannte Gastarbeiterroute in die Türkei reisen.
Meine Eltern wecken uns um 2 Uhr früh, mein kleiner Bruder und ich sitzen hinten und haben nicht einmal Platz unsere Beine abzuwinkeln. Kindersitz oder Anschnallen in den hinteren Reihen ist uns nicht bekannt.
Es ist alles vollgestopft mit Geschenken für die Familie in der Türkei und Proviant für die dreitägige Anreise. Immerhin liegen ca. 3500 Kilometer vor uns bis wir in Kayseri, der Heimatstadt meiner Eltern ankommen werden.
Jede Menge Nivea Creme in der blauen Dose, Schokolade in allen Variationen, Tee und Kaffee hat meine Mutter besorgt, die begehrtesten Geschenke unter meinen Verwandten. Die Nivea wird nur an ganz besonderen Tagen verwendet, denn sie kommt ja aus Europa und alle sind überzeugt, die macht sie jünger und schöner.
Mein Vater hat einiges an Bestechungsmaterialien besorgt. „Damit die Grenzkontrollen schneller gehen!“ sagt er. Als wir an der jugoslawischen Grenze stehen, verstehe ich was er meint. Der Grenzbeamte sagt mit ernster Miene: “Aufmachen Bagaj und alles ausräumen!“ Mein Vater steigt aus, öffnet den Kofferraum, holt Bananen und Marlboro Zigaretten raus und gibt sie dem strengen Herren. Unter seinem Schnauzer kann ich ein zufriedenes Lächeln erkennen, nun deutet er mit der rechten Hand wieder zum Kofferraum und sagt: „Zumachen und fahren!“ Ich lerne Zigaretten, Kaugummis und Bananen öffnen Grenzen.
An der bulgarischen und türkischen Grenze läuft es ähnlich ab. In der Türkei angekommen, liegen noch ca. 1700 Kilometer vor uns. Nach gefühlten tausend Mal gebe ich es auf und frage nicht mehr, wann wir endlich da sind. Zur Ablenkung zähle ich Türkeiflaggen und Atatürk-Statuen, die gibt es hier nämlich zuhauf.
Am dritten Tag ist es endlich soweit, wir sind in Kayseri. Nun beginnt die alljährliche Suche nach dem Haus meiner Tante. Es gibt nämlich keine Adressen und Stadtpläne an denen wir uns orientieren, wir fahren nach Gefühl, sagt mein Vater. Wir fahren einige Male im Kreis, wie durch ein Wunder kommen wir wie jedes Jahr bei meiner Tante an.
Die ganze Verwandtschaft fällt sich in die Arme, alle lachen und weinen vor Freude. Wir sind sehr erleichtert, dass die großen Strapazen zumindest für die nächsten sechs Wochen vorbei sind.
Am Abend kocht mein Onkel wie jedes Jahr sein berühmtes „güvec“ – ein Melanzanieintopf in einem riesigen Römertopf. Wir breiten ein riesiges Tuch auf dem Boden aus und richten das Essen an. Wir sitzen alle im Kreis und tunken mit frischgebackenem türkischen Brot in den Eintopf, es schmeckt köstlich!
In den kommenden Tagen haben alle ein glänzendes Gesicht und riechen nach Nivea. Der typische Geruch dieser Creme erinnert mich heute noch an unsere abenteuerlichen Reisen.
© Ümit Mares 2019-09-07