Vom Kirschbaum, der das Glück verteilt

Jana Puschmann

von Jana Puschmann

Story

Als ich noch im Kindergarten war, bauten meine Eltern ein Haus. Zum Einzug schenkte uns Opa Günther einen Kirschbaum. Der Baum war noch klein, trug keine Früchte, aber stand fest vergraben inmitten der frisch gesäten Rasenfläche. Wie doof, dass es dauern würde, bis er Kirschen trug! Ich stellte mir schon vor, wie ich diese herrlichen Doppelkirschen pflückte und als Schmuck an meinen Ohren trug. Oder Kirschkern-Weitspucken mit meinem großen Bruder. Oder mit Mama Kirschstreusel backen. Doch was ich mir ausmalte, ließ auf sich warten. Zeit verging. Abschied vom Kindergarten. Einschulung. Schreiben und Rechnen lernen. Ich vergaß den Baum. Er war auch immer noch mickrig, mit Wurzeln, die keinen Sturm überlebt hätten. Nach vier Jahren Grundschule bekam ich einen schicken Rucksack für das Gymnasium. An Bäume verschwendete ich keinen einzigen Gedanken; mehr an die Backstreet Boys und diesen einen Jungen aus meiner Klasse. Wenn ich aus der Schule kam, lief ich den Weg zur Haustür wie blind. Vorbei war die Zeit, als ich nach rechts schielte, um zu schauen, ob die erste Kirsche am Zweig baumelte.

Eines sonnigen Tages jedoch, als ich nach Hause kam, lief mir Mama durch den Garten entgegen. Bei mir angekommen, hielt sie ein Küchenhandtuch über meine Augen und sagte flüsternd: „Ich habe eine Überraschung für dich. Mund auf!“ „Äh, nein“, entgegnete ich sofort, „wer weiß, was du da hast? Nachher ist es Rosenkohl.“ „Vertrau mir!“ Mutig öffnete ich den Mund. Es war eine Geschmacksexplosion! Die erste Kirsche! Vielleicht noch nicht ganz reif, aber unglaublich lecker. Ein Aroma von Sommer und Sonnenschein. Ich lutschte den Kern so glatt, dass kein Fruchtfleisch mehr zu spüren war. Dann spuckte ich ihn im hohen Bogen auf die Wiese. „Lecker! Wo ist der Rest? Backen wir Waffeln dazu? Und Vanilleeis?“ „Tut mir leid, Schatz. Es waren genau drei Kirschen. Deine Geschwister sollen auch eine bekommen.“ So viele Jahre und dann drei Kirschen? DREI? Ich war enttäuscht. Hätte Opa Günther noch gelebt, hätte ich ihn gebeten, den Baum umzutauschen.

Zwanzig Jahre später denke ich belustigt und ein wenig nostalgisch an diese magere erste Ernte zurück. Inzwischen trägt der Kirschbaum so viele Früchte, dass Mama Marmelade einkocht. Papa steht gefährlich schwankend auf der Leiter und muss pflücken. So ein Obstbaum macht viel Arbeit. Und genauso viel Freude. Denn wenn Papa oder Mama Geburtstag feiern, sitzt die ganze Familie im Schatten des Blätterdachs und blickt nach oben – auf der Suche nach einer prallen, roten Frucht. Und dann wird geklettert, sich gestreckt oder der Ast geschüttelt. Auch heute ist ein Tag unterm Kirschbaum, nur dass schon Oktober ist. Papa wird 65. An meiner Hand macht mein Sohn seine ersten Schritte. Er strahlt meinem Papa – Opa –, entgegen und wackelt eilig über die Wiese. Denn Opa hängt gerade eine Schaukel in die dicken Äste des mächtigen Kirschbaums. In diesem Moment fühle ich Glück. Fehlt nur noch eine Doppelkirsche für meine Ohren.

© Jana Puschmann 2022-08-17

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