Wahrnehmung – Der Nabel und sein Süden.

Franz Brunner

von Franz Brunner

Story

Will man Störche beobachten, so ist das Burgenland ein heißer Tipp. Und möchte man Steinadler in freier Wildbahn sehen, so sollte man Tirol anpeilen. Für meine speziellen Studien habe ich Gran Canaria auserkoren. Nicht, dass es zuhause keine Bäuche und Nabel zu sehen gäbe, aber in einer derartigen Vielfalt und Freizügigkeit sind sie nur an Orten wie diesem zu finden. Nein, bitte glauben Sie’s mir nicht, ich bin nicht extra deswegen hierher gereist, es ging mir schon überwiegend um Wärme und Sonne, interessant ist‘s hier trotzdem.

Vier Kilometer sind’s von Playa del Ingles bis zum Leuchtturm von Maspalomas, die Strecke wird von den vielen Pilgern und Sonnenanbetern überwiegend bauchfrei, von vielen sogar textilfrei absolviert. Bauchfrei heißt jetzt nicht, dass die alle keinen Bauch hätten, da marschieren durchaus gewaltige Exponate auf dem sandigen Laufsteg. Es geht hier zu wie auf einer Ameisenstraße im einsamen Wald und ich habe mich in die Horde der Ameisen unauffällig eingegliedert. Mit T-Shirt und Badehose, weil zu viel Sonne ungesund ist.

Überwiegend sind es braun gebrannte Männer, die in Kleingruppen nackt im seichten Wasser herumstehen, ihre Bäuche und sonstigen Exponate von der Meeresbrise streicheln lassen. Entweder sind die Frauen daheim vorm Herd oder gerade Einkaufen, die Männer sind klar in der Überzahl. Zumindest jene, die sich präsentieren wollen. Dabei scheint es auch ein Naturgesetz zu sein, dass zwischen Körperästhetik und Präsentationsdrang kein linearer Zusammenhang besteht, eher sind die beiden Faktoren indirekt proportional, streng pragmatisch formuliert. Was aber haben diese Herren zu besprechen, oder sind sie nur wie pubertäre Jungs mit anatomischen Vergleichen beschäftigt? Ich pirsche mich unauffällig an eine 4er-Gruppe heran, packe meine Sonnencreme aus und appliziere diese gemächlich und natürlich ganz woanders hinschauend.

„Was hat das BRCL-Tattoo auf deinem Gemächt zu bedeuten?“, erkundigt sich der kleine Schokoladen-Braune. „Das heißt eigentlich BARCELONA“, gibt der befragte Seemannstyp schelmisch grinsend zurück. „Und hat es mit dem WNYHNHY auf deinem Stück auf sich?“, so die Gegenfrage. „Nichts Besonderes, nur ein Urlaubsandenken, da steht WELCOME TO NEW YORK AND HAVE A NICE HOLIDAY drauf“. Sagt’s und grinst von einem Ohr zum anderen. Die beiden anderen Herren verziehen keine Miene, sie brauchen nicht zu erklären, dass sie in WIEN und in ROM waren.

Klar habe ich jetzt ordentlich geschwindelt, ich wollte einfach diesen Witz unterbringen. Tatsache ist allerdings, dass Bäuche, Nabel und deren südliche Region ein ausgezeichnetes Feld für das Schulen der Wahrnehmung sind. Frisuren, Schuhe und Regenschirme kann ich auch zuhause observieren, doch das, was hier geboten wird, ist schon einzigartig und amüsant. Morgen mache ich mich wieder auf den Weg, um die 8 km hin- und zurück aufmerksam für meine Übungen zu nutzen. Und weniger schwindeln werde ich außerdem.

© Franz Brunner 2022-12-20

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