von Roman Scamoni
Und wieder würde Walter warten müssen. Wieder einmal. Wie so oft. Es war nicht so geplant – das war es nie. Aber machte das die Sache besser? Walter war mein bester Freund. Genau genommen war er mein einziger Freund. Woher das wusste? Weil er wartete. Immer. Jedes Mal. Ohne Vorwürfe oder wilde Anschuldigungen. Und nein, in dem, was er nicht sagte, lagen keine stillen Anklagen, wie sie bei anderen manchmal vorkamen.
Andere sagten auch nichts – aber ihr Schweigen war vernichtender als jedes mit dem Hammer der Justiz in voller Lautstärke vorgetragene Urteil. Es heißt, in der Stille liege Harmonie. Doch diese Art von Stille glich eher einer frostigen Verhandlung vor einem unnahbaren, gnadenlosen Gericht, bei dem das Urteil immer „Schuldig“ lautete. Dieses Schweigen hallte unendlich lange nach, in schier ewig sich wiederholenden Selbstvorwürfen und endlosen Zweifeln an mir selbst.
Nein, Walter schwieg ohne Hader, ohne den leisesten Widerhall einer Kritik. Es war ein wohltuendes, ja geradezu heilsames Schweigen, wie es nur von einem Freund kommen konnte. Während Walter also wartete, rannte ich – diese Gedanken mit mir tragend – zum Bus.
Wenn ich mich mit jemand anderem traf, nutzte ich die Busfahrt, um mir eine gute Ausrede für meine Verspätung einfallen zu lassen. Nicht so heute. Ich hasste es, Ausreden zu finden. Aber ich konnte doch nicht einfach sagen: „Ich habe es vergessen“ oder „Ich habe einen anderen Termin übersehen“ oder „Ich habe die Zeit nicht im Auge“. Einmal kann man das schon so sagen. Zweimal vielleicht auch noch. Bei manchen Menschen sogar ein drittes Mal. Aber spätestens dann fällt das Urteil. Spätestens dann ist die Schublade, in der dich die Person einsortiert, festgelegt und verschlossen. Für so ziemlich immer. Analysiert, schubladisiert und abserviert.
Bei Walter hatte ich immer das Gefühl, in keiner Schublade zu sitzen. Er begrüßte mich jedes Mal so, als ob es kein Vorher und kein Nachher gäbe. Als wäre der Moment jetzt gerade der Einzige, der zählt. Still in mich hineinlächelnd stieg ich aus dem Bus. Vor einem unscheinbaren Gebäude blieb ich stehen, klopfte kurz meine Tasche ab, ob alles dabei war.
Walter würde mir nie Vorwürfe machen, wenn ich zu spät käme. Aber ohne den Inhalt meiner Tasche aufzutauchen – das würde mir im Leben nicht einfallen. Als ich endlich bei Walter im Zimmer war, wurde ich wie immer voller Begeisterung empfangen. Nach einer stürmischen Begrüßung sah Walter mich – auch das wie immer – erwartungsvoll an, bis ich ihm schließlich ein Leckerli aus meiner Tasche zuwarf.
Gleich danach hing ich die Leine an sein Halsband, und wir spazierten los. Walter war ein etwas älterer Schnauzer-Mischling. Manche würden wohl sagen, eine Promenadenmischung. Seit gut einem Jahr ging ich einmal in der Woche mit ihm spazieren. Während wir am Flussufer spazierte, wusste ich plötzlich: Nicht nur Walter wartete. Auch ich.
© Roman Scamoni 2024-12-02