Was bedeutet „Zeit haben“?

LenavLin

von LenavLin

Story

Es wurde einst ein Apfelbaum im Garten gepflanzt. Dieser Apfelbaum ist groß und prächtig geworden und blüht nun in hellem Sonnenschein. Karl liebt es, ihn am frühen Morgen zu besuchen, sich im Schatten seiner Äste zu setzen und vor sich hin zu sinnieren. Dieses Sinnieren gibt ihm Inspiration für seine nächsten Storys. Niemals hätten die Lehrer damals gedacht, dass er eines Tages zu einem der bekanntesten Autoren der Zeitgeschichte gehören würde, war doch seine Schreibschwäche zu stark ausgeprägt. Das große „B“ hatte er gerne als umgedrehte Drei geschrieben. Was für ein Glück für ihn, in der heutigen Zeit mit all ihren digitalen Hilfsmitteln zu leben, auch wenn sie doch manchmal eine Last sind. Ständig ist man rund um die Uhr für jeden erreichbar, hatte man nicht die entsprechenden Einstellungen vorgenommen. Manchmal sehnt er sich daher zurück in die Zeit, in der man an der Tür klingelte und spontan auf einen Kaffee vorbeikam. Die Menschen damals hatten Zeit. Auch heute haben die Menschen Zeit. Doch sie scheinen mit der Zeit nicht umgehen zu können. Wie erklärt man sich ansonsten, dass die Menschen durchgetaktet durch das Leben schreiten? Dass man Termine zwei Wochen im Voraus vereinbaren muss, um Freunde auf einen Kaffee zu treffen. Wo bleibt da die Spontaneität?

Während Karl weiter sinniert, erhält er eine Nachricht auf Telegram: „Let’s go, let’s go. Wir starten,“ heißt es dort in dem Kanal, ehe der Empfang abbricht. Nanu, schmunzelt Karl. Wo sind denn meine Balken hin? Er ruft im Explorer seine Suchmaschine auf – besser gesagt: Er versucht es. Denn auch hier ist der Aufruf so erfolglos wie der Versuch, seine Freunde über Telegram oder Whatsapp zu kontaktieren. Karl steckt das Handy in seine Hosentasche, steht auf und begibt sich ins Haus. Er steuerte auf sein Büro zu. In der hintersten Ecke hinter alten Aktenordnern versteckt, nimmt er den Hörer von seinem antiquierten Telefon. Er hatte den Festnetzanschluss nie gekündigt. Doch er vernimmt kein Tuten. In ihm regt sich ein Funken an Freude. Vielleicht hat sein Nachbar und bester Kumpel nun Zeit für einen Kaffee?

Er schlendert zum Nachbarhaus, in dem sein bester Freund wohnt, und klingelt. Drinnen hört er Gekreische. Markus öffnet ihm. Seine beiden kleinen Kinder laufen im Hintergrund aufgeregt von Zimmer zu Zimmer wie wilde Kaninchen. Seine Frau ruft den Kleinen etwas hinterher. „Markus, hast Du Zeit für einen Kaffee?“ Markus scheint gestresst zu sein. Seine Brust hebt und senkt sich, ehe er antwortet: „Karl, sorry, ist gerade schlecht. Das Internet ist ausgefallen. Wir müssen nun irgendwie die Kinder beschäftigen. Du hörst selbst, was los ist. Sorry…“ Karl nickte, eher er sich verabschiedet und umdreht. In sich versunken geht er direkt durch sein Haus in den Garten zu seinem geliebten Apfelbaum. Er setzt sich hin. Warum merken Menschen nicht, wenn ihnen Zeit geschenkt wird? Ist ihnen Zeit überhaupt mit der Digitalisierung genommen worden? Oder sind wir Menschen schlichtweg unfähig, mit den zeitlichen Ressourcen umzugehen, die wir haben? Während Karl weiter sinniert, fällt ein Apfel vom Baum und landet vor seinen Füßen. Auf die Natur, denkt sich Karl, ist Verlass. Sie kennt ihren zeitlichen Rhythmus. Genüsslich beißt er in den Apfel und denkt an seine nächste Story.

© LenavLin 2024-07-23

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Inspirierend
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