Was bleibt, ist ein Scherbenhaufen

Luna Winkler

von Luna Winkler

Story

Ich stehe vor einem Scherbenhaufen.

Man sagt, Scherben bringen Glück. In diesem Fall bedeuten sie tatsächlich nur Schaden. Das Spiegelbild zerbrochen — was bleibt ist eine Hülle aus nutzloser Materie, zumindest kommt es einem so vor. Ich spiele mit den Scherben, mein Fuß beginnt sie in ihrem System auseinander zu klauben. Ich sehe hinab. Habe etwas vor mir, was einst uns gehörte.

Uns.

Gibt es eine Definition dafür? Ich sollte recherchieren. Wenn ja, wie würde diese lauten? Egal wie, ich bin mir sicher, diese Scherben vor mir können nicht dazu gezählt werden. Sie fallen durch dieses Raster — und zerbrechen nur noch mehr. Jede einzelne Scherbe. Immer öfter. Was bleibt ist ein Scherbenhaufen an vielen kleinen, spitzen, kantigen, verletzenden Splittern, gespickt mit Vorstellungen, die so nie existierten. Mein Blick, er hängt gebannt an der makellosen Decke über mir. Weiter weiß ich nicht. Mehr tue ich nicht. Ich sehe zu dem weißen Monstrum über mir auf, schließe die müden Augen, schon seit Wochen mit Augenringen gestraft. Vielleicht findet dieser wenig erholsame Schlaf auf dieser neuen Matratze ein Ende. Genauso wie die vielen verrückten Illusionen, die mich nachts heimsuchen, Bilder in meinem von Haus auf verträumten Kopf. Eine wilde Kombi aus zu vielen Eindrücken, zu vielen Gefühlen, zu vielen Gedanken. Und doch ist es nur diese eine Erkenntnis, die sich den ganzen Tag über in mein Hirn eingebrannt hat wie ein jäher Funke in ein Stück belanglosen Stoffs:

Ich stehe vor einem Scherbenhaufen.

Eingehend betrachte ich ihn und seine verloren gegangen Schönheit. Obwohl ich finde, dass seine hemmungslose Zerstörung auch eine schöne Seite hat. Sie ist so — echt. Zu schlimm um wahr zu sein, sodass es irgenwo auch wieder schön ist. Paradox, ich weiß. Und doch braucht mein Kopf nach jedem Erwachen seine Zeit, um zu realisieren, dass nur noch Scherben übrig sind. Zeit, um Geschehenes zu rekapitulieren und sich an Gedachtes zu erinnern. So beginnt der Tag. Und mit schweren Gedanken neigt er sich dem Abend hin, bis die Nacht Erlösung bringt. Ihnen durch Träume Einhalt gebieten. Meist mit genauso starkem Tobback.

Ich stehe also vor einem Scherbenhaufen.

Und ich sitze im Auto, wartend, dem Regen lauschend, wie seine Tropfen ihren Tanz auf dem Dach beginnen. Die nassen Bahnen an Wasser behindern meinen Blick nur wenig, als ich durch das beregnete Glas spähe, hin zu Nachbars Haus. Licht brennt im obersten Zimmer, eine schmale Silouette ist zu erkennen. Der Sohn. Ich beobachte ihn eine Weile, fast wie früher, als ich mir erhoffte, von ihm bemerkt zu werden. Früher. Das war vor ziemlich genau vier Jahren. Der Sommer, in dem alles begann. Der diesjährige, der es endgültig enden ließ.

Anscheinend hat sich der Regen seinen Weg in das Wageninnere gebahnt, denn ich spüre fein gebaute Tränen mein Gesicht befeuchten. Scheiß Novemberwetter.

Und was bleibt, ist ein Scherbenhaufen. Ob der Nachbarsjunge ihn auch sieht?

© Luna Winkler 2021-11-01

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