von Nina Wüst
Die Erleichterung, die mich umfing, als ich auf den Ausgang zusteuerte, ließ mir Tränen in die Augen steigen. Nur noch wenige Meter. Ich müsste nur noch die Tür des Hörsaals für Mathematik durchqueren, mich nach rechts wenden, an den riesigen Informationstafeln vorbeigehen und in wenigen Schritten würde ich dann durch den Haupteingang der Universität in die Freiheit gelangen. Ich spürte wie der Druck der letzten Monate innerhalb weniger Sekunden von mir abfallen wollte. Ich blinzelte ein paar Mal kräftig, um den Tränen keinen freien Lauf zu lassen. Noch ein paar Meter und ich hatte die Tür des Hörsaals erreicht. Ich könnte endlich alles hinter mir lassen. Alles vergessen. Ein neues Leben beginnen. Mich vielleicht neu erfinden und ein paar meiner Punkte auf meiner »30 bevor 30-Liste« erledigen, von denen ich vor ein paar Monaten nicht gedacht hätte, dass ich dazu doch noch die Chance bekommen würde. Doch mit jedem Meter Richtung Ausgang löste sich nicht nur die Anspannung, sondern auch der Druckverband, den ich in der letzten Zeit so mühsam um mein Herz gelegt und fest gezogen hatte. Gefühle, welche ich so gut verschlossen hatten, drückten sich schmerzhaft wieder an die Oberfläche. Ich spürte wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete und vor meinen Augen kleine schwarze Punkte anfingen herumzutanzen. Die Luft um mich wurde plötzlich immer dünner und ich merkte wie mir das Atmen langsam schwerer fiel. Ich blieb stehen und musste mich am Türrahmen abstützen, weil ich das Gefühl hatte, meine Beine würden sich jede Sekunde unter mir verabschieden. Ich presste meine Lippen fest zusammen, bohrte meine Fingernägel in die Handflächen und schloss meine Augen für einen kurzen Moment. Nicht jetzt Emma. Nicht schon wieder. Du musst atmen. Langsam. Tief ein und aus. Du hast es geschafft. Du hast jedem gezeigt wie stark du bist. Ich öffnete vorsichtig meine Augen und erwartete wieder die kleinen Punkte am Blickfeldrand tanzen zu sehen, doch sie waren tatsächlich verschwunden. Ich holte noch einmal tief Luft und machte vorsichtig einen kleinen Schritt nach vorne. Gut, meine Beine taten zumindest schonmal wieder das, was ich wollte. Ich trat einen weiteren Schritt nach vorne. Zu meiner eigenen Überraschung konnte ich bereits wieder ruhiger atmen. Nur noch ein paar Schritte bis zum Ausgang. In mir breitete sich ein kleiner Hauch von Stolz aus. Nicht etwa, weil ich eben meine letzte Prüfung bestanden hatte. Nein. Sondern, weil ich es wieder einmal geschafft hatte, mein Inneres vor mir und allen anderen zu verschließen. Als ich nun durch die schweren großen Holztüren der Universität trat, blies mir eine kalte Brise ins Gesicht. Gott, tat das gut. Ich fühlte wie der Wind meine leicht geröteten Wangen kühlte und mir mein langes braunes Haar, welches ich ausnahmsweise nicht zum Zopf trug, ins Gesicht wehte. Ich strich mir die Haare hinters Ohr und schaute in den dunkelgrauen, mit Wolken bedeckten Himmel. Ich hatte es geschafft. Ein kleines Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Ich wollte gerade die große, mit Marmor Figuren verzierte, Treppe vor dem Haupteingang der Crestview Universität heruntergehen, um in Richtung der Parkplätze zu laufen, als sich die schwere Tür hinter mir erneut mit einem leisen quietschen öffnete. Ich wusste, wer dort gerade herausgetreten war, noch bevor er meinen Namen sagte. »Ems, warte.«
© Nina Wüst 2024-09-04