Dass einmal ein Wellenreiter mein Seminar „Phänomenologie des Geistes“ besuchen werde, überstieg mein Vorstellungsvermögen. Doch es passierte. Und nach einem Semester hat er folgende Seminararbeit abgegeben:
Die Phänomenologie der Welle
Jede Welle an sich ist Bewegung, die den Betrachter in Erwartung und Spannung versetzt, sich jedoch in schale Erinnerung verflüchtigt, sobald sie gestrandet ist, im Sandstrand versickert und sanft in das Meer zurückfließt, oder an Felsen bricht und schäumend abprallt. Die Welle ist mehr als nur die Oberflächenform des Meeres. Die Welle als einzelne ist niemals und nirgends, sie ist nicht hier und nicht jetzt. Sie ist immer und überall hier gewesen und jetzt gewesen, bis sie auf ein Ufer trifft, wo sie ihre endgültige Form erreicht, aber nicht mehr Welle ist. Das Schicksal der Welle ist damit nicht besiegelt, denn auf eine Welle folgt die nächste und wieder die nächste und so weiter und so fort, solange der Wind weht. Die Negation der Welle ist somit nicht das Ufer, an dem sie ausläuft oder abprallt, sondern der Wind, der weht oder nicht weht, stark oder schwach.“Die reine allgemeine Bewegung, das absolute Flüssigwerden alles Bestehens, ist aber das einfache Wesen der Welle, die absolute Negativität, das reine Fürsichsein, das hiermit an dieser Welle ist“, hätte Hegel schreiben können.
Die Lektüre von Hegels Werken ist wie Wellenreiten. Alles, was du auf der Welle empfindest, ist die Energie der Welle; du bist eins mit der Welle, die Welle ist eins mit der Kraft des Meeres. Die Oberflächenspannung der Welle ist eins mit der Anspannung deines Körpers. Auf der Welle finden die allgemeinen Begriffe Bewegung und Balance, Konzentration und Kraft, Anspannung und Entspannung in dir zu sich. Du bist Teil der Welle als Part und Widerpart. Welle und Körper als Einheit lenken das Wellenbrett in eine Richtung, in die einzig mögliche Richtung. Das Ergebnis ist erlebte Freiheit. Doch die erlebte Freiheit ist keine gelebte Freiheit. Du verfügst lediglich über die Freiheit, die Welle zu beherrschen, die dich beherrscht.
Alles, was du auf der Welle und durch die Welle gelernt hast, wird dir nicht helfen, wenn du dich im Auf und Ab deines Lebens, im Alltag, in deinem Beruf zurechtfinden musst oder durch das Internet surfst, wenn du Freunde oder Feinde besser verstehen willst oder auch nur, wenn du dich durch die Massen einer Fußgängerzone schlängeln musst. Aber mit großer Wahrscheinlichkeit wird ein hegelianischer Wellenreiter nicht so leicht auf Glatteis ausrutschen. Im wirklichen Leben aber kommt es darauf an, sich nicht auf’s Glatteis führen zu lassen. Wellenreiten ist eine Bewegung sui generis. Dasselbe gilt für die Lektüre von Hegel: sie kann dich in ihren Bann ziehen, deinen Geist in Hochspannung versetzten, doch die Einzelheiten verschwimmen in schaler Erinnerung, sobald du das Buch schließt und das Allgemeine in einem Begriffe sich auf dem Buchdeckel offenbart: Phänomenologie, Logik, Wissenschaft, Ästhetik, Philosophie. Nachsatz: Auch ein Wasserfall schlägt Wellen. Doch das ist ein anderes Thema, denn die Welle eines Wasserfalls entäußert sich als Sprudel, Schaum und Strudel; als solche ist diese Welle Einzelfall von allem, was der Fall ist.
© Hubert Thurnhofer 2024-01-18