von denkdirwas
Als er die alte Holztüre öffnet, läutet ein Glöckchen. Draußen regnet es, über den Straßen schweben kleine Nebelwolken, es riecht nach Tannennadeln und Matsch. Er nickt kurz in meine Richtung, dann schlägt er seinen Mantel mit einer anmutigen Bewegung über den Stuhl und setzt sich an einen Tisch ans Fenster. Das dunkle Haar steht ihm verdreht in alle Richtungen und verbirgt sein Gesicht. Die Beine schlägt er übereinander, sucht in seiner Jackentasche nach etwas und holt schließlich einen Füller sowie ein kleines abgewetztes Buch mit ledernem Einband hervor. Behutsam öffnet er es und blättert durch die zerknickten Seiten.
Er bestellt einen doppelten Espresso und eine Zimtschnecke.
Mehr hört man nicht von ihm. Die Menschen kommen und gehen, ich verteile Kaffee und Milchkaffe und Latte Macchiato und eigentlich verteile ich doch immer nur Kaffee mit Milch. Manche setzen sich, viele sind nur auf dem Sprung; fast jeder beschwert sich über das Wetter. Regenschirme werden hektisch eingefaltet oder aufgestoßen. Wortfetzen, Kaffee, mehr Wortfetzen.
„Wer schreibt, der bleibt“, kommentiert eine Frau mit spitzer Nase irgendwann den schreibenden Mann am Fenster. Er ist über sein Buch gebeugt. Die Zimtschnecke hat er bisher ganz stehenlassen. Die Frau ist mit ihrem Kind da, und beginnt jetzt einen Monolog über das Schreiben lernen, und Lesen lernen und Lernen ganz im Allgemeinen. Immer mit dem Ziel, einen guten Schulabschluss zu machen und viel Geld zu verdienen. Es ist Sonntag nachmittag und ich bin sicher, gerade würde der Kleine nichts lieber tun, als lachend durch die Pfützen zu springen. Seine Kleidung ist komplett trocken.
Der Mann mit dem Mantel hat das Fenster geöffnet und sich eine Zigarre angezündet. Die Leute murren wegen der Kälte. Ich bringe ihm einen Aschenbecher. Ein Blick auf das Buch verrät, was er die letzten Stunden getan hat. Es ist nicht sehr viel. Er hat vielleicht zwei oder drei Seiten geschrieben, Gedichte. Zum ersten Mal an diesem Tag schaut er mich direkt an:
„Wer schreibt, der bleibt. Woran denkst du dabei?” Seine Stimme ist tief und rau und beruhigend, wie stürmische See aus der Ferne.
„Ehm. Naja, man muss doch schreiben können, sonst kann man in der Gesellschaft nicht mithalten, oder?“
„Das habt ihr in der Schule gelernt?“
Ich nicke. Er schnaubt. Schlägt die Beine übereinander.
„Wer schreibt, wird nicht vergessen. Und wer schreibt, vergisst nicht.“
Er reicht mir sein Notizbuch und ich lese stumm, was sich darin verborgen findet. Ich lese es einmal, zweimal, dreimal. Erst ungläubig, dann berührt. Das Gefühl hatte sich auf diesen Seiten ausgezogen und stand nun nackt vor mir.
Er konnte seine Bestellung nicht bezahlen. Es war mir egal. Er gab mir ein Gedicht mit. Ich weiß nicht, wie er hieß und ich habe es auch nie herausgefunden. Er kam nie wieder. Das Gedicht habe ich Zuhause aufgehangen, es trägt mich durch die Tage und Nächte und alles dazwischen.
© denkdirwas 2021-08-30