von Wolfsiera
Laut Goethe sollten Eltern ihren Kindern Wurzeln und Flügel geben. Flügel, um in die große weite Welt hinauszufliegen. Wurzeln, um immer wieder zurückzukommen. Aber was, wenn eines der beiden verkümmert? Was, wenn die Wurzeln zu faulen beginnen, die Symptome jedoch ignoriert werden? Was passiert, wenn die Flügel so groß und stark werden, dass sie drohen das Wurzellose Kind davonzutragen?
Meine Flügel sind wunderschön. Sie reichen bis zum Himmel hinauf und scheinen jeden Tag ein bisschen mehr zu wachsen, während meine Wurzeln langsam faulen und Stück für Stück verkümmern. Mit jedem bissigen Kommentar, mit jeder egoistischen Handlung kann ich es förmlich spüren, wie nach und nach die untersten Enden der Wurzeln erst erschlaffen und letztendlich komplett absterben. Je mehr meine Wurzeln schrumpfen, desto mehr schreit ihr auf; „Du entfernst dich immer mehr von uns! Du vertraust mehr auf das Wort Anderer, als auf das deiner eigenen Eltern! Undankbar bist du! Scheinheilig.“
So stehe ich da und weiß nicht, wohin mit mir. Ich habe sie lieben gelernt. Meine Flügel. Meine wunderschönen großen Flügel, welche ich dir so gerne mit stolz präsentieren würde. Doch zu wissen, dass du sie hasst, macht mich traurig. Dabei warst du es doch selber, die sie mir gegeben hat. Über Jahre hinweg – Stück für Stück. Ich habe dich früh gewarnt. Habe meine Gedanken, Befürchtungen und sich Lösungsansätze kundgetan. Doch es wurde ignoriert. Und so wuchsen sie weiter und weiter, während ein kleiner Wurzelstrang nach dem anderen verschwand.
Ich habe Angst das letzte bisschen an Wurzeln zu verlieren, was noch da ist. Ich klammerte mich an den Boden. Vergrabe meine Hände so tief es geht im Gras und halte mich fest, um nicht davonzufliegen. Doch ich habe das Gefühl… Anstatt mich festzuhalten – anstatt anzufangen die Wurzeln zu gießen, damit neue sprießen und mich wieder auf den Boden zurückholen – scheinst du nur dazusitzen und zuzusehen. Abzuwarten. Dich an meiner Zerrissenheit zu ergötzen. Ein unschönes Gefühl. Ein unschöner Gedanke. Und mit jedem Tag wird es so immer leichter. Mit jedem Tag, jeder Woche, jedem Monat wird es leichter meine Finger etwas zu entspannen. Zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist. Loszulassen.
Und eines Tages… Werde ich davonfliegen. Ich werde meine wunderschönen großen Flügel mit stolz tragen und emporsteigen. Ich werde noch immer traurig um meine Wurzeln sein. Aber wer weiß. Wer weiß, wo ich landen werde, und wer weiß, was dort auf mich wartet. Vielleicht werden mir ja neue wachsen.
© Wolfsiera 2024-06-21