von Barbara Fath
Ein Marienkäfer krabbelt auf meiner Kniescheibe. Er scheint nicht zu wissen, wohin er möchte. Er dreht sich im Kreis, breitet kurz seine Flügel aus, überlegt es sich wieder anders und wandert dann behutsam ein Stück weiter, meinen Oberschenkel entlang, Richtung Hüfte. Seine Bewegungen kitzeln mich. Gerade heute, in dieser wundervollen, warmen Vollmondnacht, besucht mich dieser kleine Glückskäfer. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen.
Seit der orangen Dämmerung liege ich auf einer Decke in der Wiese und verfolge die vielen Farben und Schattierungen am Himmel. Ich warte auf ihn, auf den Mond. Nun ist er endlich aufgetaucht und hat protzig und strahlend auf der Bühne der Nacht Platz genommen. Ob er um seine Magie weiß? Ich denke schon. Mit meinem Zeigenfinger zeichne ich seine Konturen in der Luft nach, berühre ihn gedanklich ganz vorsichtig. Wie schön er ist, perfekt wie eine goldene Kugel. Ich male einen zierlichen Bogen in den unteren Kreis und zwei dicke Punkte in den oberen. Ich schenke ihm ein Gesicht. Er bekommt noch zwei Ohren, eine spitze Nase und einen schwarzen Hut. Fertig ist er, der Mann im Mond.
Je länger ich ihn ansehe, desto lebendiger wird er. Seine Wangen röten sich und er öffnet seine Augen. Wahnsinn, mein Mond lächelt und zwinkert. Was für ein wundervoller Moment, eine Hingabe meiner Fantasie. Er wird immer heller und zieht mich mit seiner Präsenz zu sich. Wir schweben und tanzen, eine lang vermisste Leichtigkeit nimmt Besitz von mir. Grandiose Augenblicke zum Festhalten.
Die Nächte mit ihm sind sonst anders, manchmal sogar ziemlich anstrengend. Seine Anwesenheit kann sehr aufwühlen und fordern. Heute aber nicht. Heute bietet er mir ein heiteres und entspanntes Bühnenstück. Er pfeift und singt, wirft seinen Hut, fängt ihn wieder und setzt ihn dann auf meinen Kopf. Er flüstert mir ins Ohr: „Es ist alles gut, hab Vertrauen, Liebes.“ „Ja, ich weiß, alles ist gut, danke dir“, flüstere ich leise zurück.
Fast hätte ich auf den Marienkäfer vergessen. Nun spüre ich wieder seine feinen Bewegungen auf meiner Haut. Er hat es schon bis zum Bauch geschafft. Kurz vor meinem Bauchnabel breitet er abermals seine kleinen Flügel aus und diesmal hebt er ab und fliegt, vom hellen Mondschein begleitet, von mir weg.
Diese Vollmondnacht, zauberhaft und mystisch, hat mich müde gemacht. Mit angenehmer Gedankenleere schließe ich meine Augen und schlafe auf der Decke ein. Der Mann im Mond beschützt mich. Der Marienkäfer fliegt währenddessen durch die Nacht, den weiten Weg bis hin zu dir. Er hat diese wichtige Nachricht für dich: „Es ist alles gut, hab Vertrauen!“
Bild Ganapathy Kumar, unsplash
© Barbara Fath 2021-06-25