Zeitspuren

Musenzeit

von Musenzeit

Story

Der Zug ruckelt gemächlich durch die Sommerlandschaft.

Da tauchst du auf vor meinem inneren Auge. Dein unruhiger, wandernder, jagender Blick, der auf Menschen fällt.

Wie soll ich dich nennen? Namen sind voller Assoziationen vergangener Zeiten, dissonant und verzerrt zum Jetzt…-

In deiner Mittagspause hast du etwas Zeit. Die Innenstadtpraxis liefe gut, reiche Kundschaft ginge ein und aus. Deine Freundin wäre in der Szene „The Body“ genannt worden, Modelfigur. Cup D hätte sie sich machen lassen. Stolz seist du gewesen, dich mit ihr an deiner Seite zeigen zu können, in deinem Porsche. Alle Blicke wären zu Euch gewandert. Ein echter Hingucker.

Du bestellst das nächste Bier und trinkst es so schnell, als sei es Wasser.

Welchen Namen gibt “die Szene” ihr wohl nun, wo sich ihre Zehen und Finger durch die Erkrankung verkrümmen, Gelenke sich versteifen? Der Gedanke verstört mich. Gelingt es dir wohl, diese Frau, mit ihren Zeitspuren an sich, an deiner Seite liebevoll wahrzunehmen?

Unruhig wandert dein Blick herum, taxiert die junge Bedienung, während du weitererzählst.

Das Geschehen überfordere dich. Das Vergehen ihrer äußeren Schönheit. Nur mehr wenige Schritte könne sie machen. Mit dem Auto herumfahren wolle sie, und teure Luxus-Unterkünfte müssten es sein. “Die monatlichen Autokosten allein fressen schon mein Konto leer,” beschwerst du dich. Früher, da seist du in den Bergen, am Fels, am Fluss unterwegs gewesen. Freiheit und Leben pur. Jetzt sei alles anders geworden.

Wir schweigen, dein Bierglas ist leer.

Die nächste Botox-Patientin warte, du müsstest weitermachen. So verabschieden wir uns…-

Ich darf wieder auf meinen beiden Beinen unterwegs sein. Meine Zehen stecken in stabilen Wanderschuhen, dort haben sie viel Platz. Sie mussten sich ins Leben hinein krümmen, habe ich sie doch in jungen Jahren im Training und Alltag erbarmungslos in die Enge gedrängt und beansprucht. Jetzt dürfen sie sich ins Leben ausstrecken.

Mein Gepäck werde ich mit mir tragen, das Notwendigste für Wandertage.

Mit jedem Schritt werden sich meine Fingerspitzen nach den hohen Grashalmen an meiner Seite ausstrecken, um ihr knisterndes Rascheln zu hören und feste, nahrhafte Samenkörner zu spüren.

Das Danke breitet sich in mir aus.

Eine Kerze möchte ich innerlich für mich anzünden, bei jedem bewussten Atemzug. In mein Inneres einkehren wie in eine kleine Kapelle, wo es für den Bruchteil eines Wimpernschlags unendlich lange still und wohlig wird. Wo immer wieder das Licht aufscheint und niemand kommt, um es abends auszulöschen.

Hier brennen Lichter in farbigen Gläschen. Ihre wellenverspielten Reflexionen tanzen auf einem tiefen See, dessen Seerosenblüten den Sommer feiern.

Dort ist der Mond der vergangenen Tage, der durch dichten Wald schimmert. Er weist denjenigen den Weg, die sich auf seine zartscheinenden Hinweise verlassen möchten. Dämmerung schenkt mehr als dass sie verbirgt.

– So hell ist es heute da draußen, es vibriert! –

© Musenzeit 2021-06-17

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