Als Odin mit seinem achtbeinigen Pferd die Erde berührte, trafen die Hufen südöstlich des Fischerstädtchens Husavik im Norden von Island auf Land und schlugen eine riesige Kerbe in den Boden: die Ásbyrgischlucht.
Über eine breite Einfahrt fahre ich in die Schlucht, die sich schlundartig zusammenzieht, je tiefer ich hineinfahre – vorbei an einem 25 m hohen Felsen Eyjan („Insel“). Durch das Zusammenrücken der Schluchtwände kommt es beim Hineinfahren schnell zu klaustrophobischer Panik.
Die ungewöhnliche Form der Schlucht ist durch drei besonders starke Gletscherläufe entstanden, die sich nach Ausbrüchen der Vulkane Kverkfjöll und Bárðarbunga bildeten. Sie gehören zum Gletscher Vatnajökull – eine der größten Gletscher in Europa (größer als die Insel Korsika). Die Ausbrüche fanden vor Tausenden von Jahren statt, wobei besonders der dritte am stärksten war. Der damals hier fließende Fluss Jökulsá á Fjöllum verlagerte sich und hinterließ diese Schlucht. Einzig der Felsen Eyjan am Eingang zeugt noch davon.
Schon vor der Einfahrt werde ich um Rücksicht gebeten, befinde ich mich doch nun über dem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum der Elfen. Ásbyrgi wurde – im Sinne der isländischen Mythologie – zur Elfenhauptstadt bestimmt. Diverse botanische Besonderheiten unterstreichen diesen Eindruck, z. B. ein Birkenhain, dessen Birken eine silbergraue statt weißschwarze Rinde haben. Der Glaube an das Volk der Elfen, die nicht selten (angeblich) auch mit Menschen Verbindungen eingehen können, ist tief verwurzelt. Fast jedes Haus in Island hat an seiner Vorderseite eine Reihe kleiner Elfenhäuschen, um diesen Wesen Unterschlupf zu gewähren.
Erla Stefánsdóttir (+2015) war nach eigener Aussage Medium und Spezialistin für Huldufólk („Verborgenes Volk“), wozu Elfen und Trolle zählen. Sie beschäftigte sich mit Lichtfeen, Gnomen und Trollen und legte eine „Elfenkarte“ an. Zwar hatte sie keine amtliche Funktion, wurde aber als Elfenkundige für externe Gutachten hinzugezogen.
Im Rahmen der isländischen Baugenehmigungsverfahren muss geprüft werden, ob ein Bauvorhaben Kulturgut beschädigt, wozu Geländeformationen, große Steine und Felsen gehören. Sie werden als „von Elfen bewohnt“ angesehen. Aus diesem Grund kann schon mal ein geplanter Straßenabschnitt modifiziert, ein Felsen nicht angetastet werden. Sehr bekannt ist die Straßenverengung wegen eines „Elfenfelsens“: der Álfhólsvegur [„Elfenhügelweg“] in Kópavogur. Elfen, so meinen die Isländer, gibt es überall. Sie glauben, dass in Deutschland dies die Gartenzwerge sind.
Südlich von Ásbyrgi gelange ich zum Dettifoss, dem mächtigsten Wasserfall Europas, dessen Wassermassen sich in einer düsteren, geheimnisvollen Schlucht verlieren. Sie erinnert an Mystik im Untergrund, mehr noch an die Frühzeit der Erde.
Dahinter breitet sich Mödruladur aus – eine lebensfeindliche Vulkanwüste.
Hier fühlen sich nicht einmal Elfen und Trolle wohl.
© Heinz-Dieter Brandt 2020-09-15