Meike starrte aus dem Autofenster auf das Schild im Vorgarten. Anwaltskanzlei Fassbinder und Kollegen. Hier, im Schatten der Kastanien, die die Einbahnstraße säumten geparkt, konnte sie die Villen auf der anderen Straßenseite gut einsehen, ohne selbst gesehen zu werden. Ihre anfängliche Aufregung hatte sich zunächst in Ungeduld und dann in Resignation verwandelt. Noch länger zu warten ergab allmählich keinen Sinn mehr. Während sie überlegte, einfach unverrichteter Dinge wieder zu fahren, kündigte ein Brummen auf dem Armaturenbrett den Eingang einer neuen Nachricht an. Sie nahm das Handy zur Hand. Eine Nachricht von Thea.
Wie läuft es? Brüderchen schon gesehen?
Frustriert ließ sie sich in den Sitz zurückfallen und das Handy auf den Beifahrersitz gleiten. In ihrer Vorstellung lungerte sie nicht wie eine Stalkerin mehrere Stunden in einer Seitenstraße der nächstgrößeren Stadt herum. Ganz im Gegenteil, lässig und selbstbewusst wollte sie in die Kanzlei schlendern und sich vorstellen. Auf den letzten Metern hatte sie jedoch ihre eigene Courage verlassen. So saß sie seit drei Stunden ihren Hintern platt und wartete darauf, das Thomas Fassbinder Feierabend machte, um einen unverbindlichen Blick auf ihren großen Bruder werfen zu können.
Gefunden hatte ihn Rieke, die sie letzten Dezember kontaktiert hatte. Ihre Halbschwester Rieke. Ihr Halbbruder Thomas. Es klang immer noch fremd in ihrem Kopf und fühlte sich fremd in ihrem Herzen an. Immerhin hatte sie knapp 33 Jahre als Einzelkind zugebracht. Sie wusste zwar, dass das Erzeugerschwein, wie ihre Mutter Holger Rast nannte, mit seiner zweiten Ehefrau zwei Kinder hatte, aber mehr auch nicht. Da war keine Zeit für geschwisterliche Gefühle. Mutter, ob sie gewusst hatte, dass Holger Rast mit anderen Frauen vor ihr Kinder gezeugt hatte? Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als sich die schwere Holztür der Villa öffnete, in der die Anwaltskanzlei untergebracht war. Ein Mann trat hektisch heraus, blieb stehen, klopfte die Taschen seines Sakkos ab, drehte sich wieder um und die Tür fiel mit einem Knall hinter ihm ins Schloss. Sie richtete sich in dem Moment im Fahrersitz auf, als sich die Tür erneut öffnete. Sie stutzte, das musste Thomas Fassbinder sein. Auf der Homepage der Kanzlei hatte sie ein, vermutlich altes, Foto von ihm gesehen, das doch eher weniger mit dem wandelnden Klischee auf der anderen Straßenseite zu tun hatte. Schütteres dunkelblondes Haar, ein Ticken zu lang getragen und krampfhaft auf eine Seite gekämmt, ein Bauchansatz über den sich ein weißes Hemd spannte und ein dunkelgrauer Anzug, der etwas aus der Form gekommen war. Er wirkte abgespannt und fahrig.
„Wenn nicht jetzt, wann dann“, sagte sie zu sich selbst, nickte bekräftigend und schnappte sich ihre Autoschlüssel, bevor sie ausstieg, ihn mit großen Schritten einholte und außer Atem keuchte „Entschuldigung, Herr Fassbinder?“ Er blieb stehen, drehte sich um und musterte sie misstrauisch. „Ja?“ „Also hallo, äh Thomas. Ich will an sich nicht mit der Tür ins Haus fallen. Mein Name ist Meike Nowak und Holger Rast ist mein Erzeu … mein leiblicher Vater. Also wenn man so will, unser Vater. Hast du einen Moment?“
© Constanze Woidschützke 2024-02-10