Bereits eine Stunde später bin ich beim Zentrum angekommen. Falls Finn verwundert gewesen sein sollte, dass ich spontan vorbeikomme, hat er es sich zumindest nicht anmerken lassen. Das Wetter ist nicht wesentlich besser als bei meinem letzten Besuch. Um dem Regen zu entfliehen, stürme ich schnellen Schrittes in die Eingangshalle und stoße prompt mit etwas oder besser gesagt mit jemandem zusammen. „Oh, hey Lorelie“, erklingt Finns Stimme. Na super, kann ich mich eigentlich noch mehr vor ihm blamieren? Langsam hebe ich den Blick und schaue in Finns graue Augen. Doch bevor ich zu einer Antwort ansetzen kann, verändert sich etwas in seinem Blick. Er zieht seine Augenbrauen zusammen. „Hast du geweint?“ Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet – also wirklich gar nicht gerechnet. Ich habe mir zwar schon gedacht, dass ich nach der Therapie nicht wie das blühende Leben aussehe, aber dass es wirklich so schlimm ist… „Äh ja, ich bin… ich bin umgeknickt und äh das schmerzt noch“, stammle ich. Finn glaubt mir nicht. Das kann ich deutlich in seinem Blick sehen. „Umgeknickt?“, hakt er skeptisch nach. Ich nicke und wie zum Beweis humple ich drei Schritte vorwärts. „Und ich bin nicht hier, um dir meine Verletzungen zu schildern, sondern um zu arbeiten. Also können wir loslegen?“ Ich gehe ungelenk in Richtung der Aufenthaltsräume, ohne einen richtigen Plan zu haben. Eigentlich hoffe ich nur, dass Finn mir folgt und erklärt, was wir heute vorhaben. Doch das macht er nicht. Als ich einen Blick über die Schulter nach hinten zu ihm werfe, steht er immer noch an Ort und Stelle und mustert mich mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten kann. Er wirkt fast schon gekränkt. Als sich unsere Blicke treffen, räuspert er sich und schließt zu mir auf: „Du brauchst mir nicht zu erzählen, was bei dir los ist – wirklich nicht. Aber lüge mich nicht an, das kann ich nicht leiden.“ Mit diesen Worten und einem mulmigen Gefühl lässt er mich stehen und läuft voraus. Hölzern folge ich ihm. Warum habe ich nicht einfach die Wahrheit oder besser nichts gesagt? Jetzt ist die entspannte Stimmung dahin.
Vor einem der Spielzimmer, die für kleinere Kinder gedacht sind, bleibt Finn stehen. Er schaut mich an und sein Blick ist nicht mehr von Wut erfüllt. „In diesem Zimmer ist Timmy. Er kommt oft nach dem Kindergarten noch zu uns, weil seine Mama noch arbeiten muss. Er ist wirklich ein lieber Junge, da brauchst du dir keinerlei Gedanken zu machen. Wollen wir?“ Langsam nicke ich und Finn öffnet daraufhin die Tür. Drinnen sitzt ein kleiner rothaariger Junge, der den Blick hebt, als wir den Raum betreten. „Hi Timmy, ich habe dir heute jemanden mitgebracht. Das ist Lorelie“, stellt Finn mich vor. Timmy steht auf und zupft an meiner Hand: „Ich bin Timmy. Spielst du mit mir?“ Dabei schaut er mich aus großen Augen an. Unsicher blicke ich zu Finn, doch dieser schenkt mir ein aufforderndes Nicken. „Klar, lass uns spielen.“ Als hätte Timmy nur auf mein Go gewartet, zieht er mich zu den Bauklötzen.
© Selina Schikor 2022-12-04