Die Uhr tickt. Erstmals in ihrer Geschichte stehen die USA davor, eine farbige Frau zur Präsidentin zu wählen. Blackbird, fly.
Der Song Blackbird erschien im November 1968 im White Album der Beatles, als Solo Performance von Paul McCartney. Auf der Aufnahme hören wir eine Vogelstimme, darüber hinaus nur McCartneys Stimme, seine Gitarre und ein rhythmisches Geräusch, das wie ein Metronom klingt. Es sind Pauls Füße, die alternierend den Takt angeben und eigens mit einem Bodenmikrofon aufgenommen wurden. Trotz McCartneys Autorenschaft lautete der Song Credit auf Lennon/McCartney, was Paul nach der Auflösung der Band auf McCartney/Lennon änderte. Komponiert hat McCartney den Song auf seiner Farm in Schottland. Als Inspiration diente die Bourrée aus der Lauten-Suite in e-Moll (BWV 996) von Johann Sebastian Bach: ein berühmtes Gitarrenstück, das Paul und Bandkollege George Harrison als Teenager oft gemeinsam gespielt haben.
Der Blackbird ist eine Amsel. Zu seiner Entstehungszeit, in den 1960ern, ist Blackbird auch der Slangausdruck für eine schwarze Frau. Und schon katapultiert uns die Zeitmaschine zurück zur U.S.amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die Paul McCartney tief berührt hat: Der Text zu Blackbird entstand kurze Zeit nach der Ermordung von Martin Luther King Jr. am 4. April 1968 in Memphis, Tennessee. Blackbird singing in the dead of night. Der Song handelt von der alltäglichen Diskriminierung der afroamerikanischen Frau. Take these broken wings and learn to fly … Der Schwarze Vogel ist das Symbol für diese Frau und ihre Sehnsucht nach Freiheit. – Ja, da bekommen wir Gänsehaut.
All your Life … You were only waiting for this moment to arise. … All your Life … You were only waiting for this moment to be free. Auch eine Love Story ist mit Blackbird konnotiert: So soll Paul den Song nach der ersten Nacht, die Linda Eastman, seine spätere Frau, in seinem Haus verbracht hat, für Fans (die vor seiner Haustüre gecampt hatten) performt haben. Nur Paul und seine Gitarre. – Wahr oder nicht? Jedenfalls eine gute Geschichte.
Blackbird macht etwas mit uns, die wir den Song dreistimmig im Chor einstudieren. Wir lernen, sanft zu singen, die Begleitstimmen zurückzunehmen, damit die Hauptstimme mit der Kernbotschaft: dem Weg in die Freiheit, klar triumphiert. Wir lernen Achtsamkeit und Ehrfurcht vor dem Großen, das sich im Zurücknehmen zeigt. Ähnlich dem Original: der Gesang einer Amsel, die Stimme eines Mannes, eine Gitarre und zwei Füße für den Takt.
Musik kann uns über uns selbst hinauswachsen lassen. Seit 1968 hat sich in den USA bei den gelebten Bürgerrechten vieles zum Besseren hinentwickelt, jedoch längst nicht alles. Blackbird spricht von der Befreiung des Individuums aus den Zwängen einer diskriminierenden Gesellschaft. Kann der Song 56 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ein Versprechen sein, eine Vision? Blackbird fly, Blackbird fly. Die Uhr tickt. Erstmals könnten die USA eine Frau zur Präsidentin wählen. You were only waiting for this moment to arise. Eine „farbige“ Frau. Eine, die dazu beitragen kann, dass die Welt farbig bleibt und nicht ins Schwarz-Weiße abdriftet.
Into the light of a dark, black night.
© Beate Schilcher 2024-10-14