Darf ich jetzt weinen?

Daria_Renee

by Daria_Renee

Story

Mein Telefon klingelte, und die OP-Pflege bat mich darum, in den OP-Saal zu kommen. Ich sollte dabei helfen, die Patientin auf dem Operationstisch zu lagern, und hinterher bei dem simplen Eingriff assistieren. Die Person kannte ich, sie lag schon lange bei uns zu dem Zeitpunkt und ich hatte sie sehr ins Herz geschlossen. Mit den meisten Menschen, die längere Zeit bei uns liegen baut man eine Art “Freundschaft” auf, da man sie beinahe jeden Tag sieht, und sie sehr gut kennenlernt. So auch bei der Frau, bei der die Operation vorgenommen werden sollte.

Ich betrat also den Operationssaal, und begrüßte das Team; ich freute mich, denn wir waren eine lustige Gruppe und so machte das Arbeiten nun mal mehr Spaß. Sobald ich meinen Mundschutz hinter meinem Kopf zusammengebunden hatte, ging ich auf die Patientin zu, um sie ebenfalls zu begrüßen. Sie war ein wenig blass, aber das waren viele Patienten, die bei uns auf dem Operationstisch lagen. Ich nahm ihre Hand und drückte sie ein wenig, um ihr zu signalisieren, dass sie keine Angst haben müsse. Sie hatte wunderschöne Augen, und nannte mich immer “Liebes” oder “Schätzchen” wenn sie mich sah.

“Wir sehen uns danach, träumen Sie was Schönes und merken Sie es sich bloß, damit Sie mir davon erzählen können”, sagte ich noch zu ihr, bevor sie in den tiefen Narkoseschlaf fiel. Kurz darauf betrat der Operateur den Raum, um mir bei der Lagerung behilflich zu sein. “Dieser Eingriff ist das ultima ratio”, sagte er währenddessen und etwas in mir begann zu schmerzen. Ultima ratio. Letzte Möglichkeit. Mir wurde der Kittel angezogen, und der Operateur startete mit dem Eingriff.

Solange man am Operationstisch steht, und sich um die Person kümmert, die unter den sterilen Tüchern schläft, ist man in einer anderen Welt. Es zählt der Patient oder die Patientin. Es ist egal, ob man vor zehn Minuten noch auf die Toilette musste. Es ist egal, ob der Knöchel von dem Treppensturz grade noch wehgetan hat. Es wird automatisch ausgeblendet. Man funktioniert und wendet die Handgriffe an, die man perfektioniert hat. Man gibt alles, um das Leben des Menschen zu retten oder zu verbessern.

Ein durchgehendes Piepen riss mich schließlich in die wirkliche Welt zurück. Ein Blick auf den Monitor offenbarte mir die furchtbare Nulllinie, die das Ende des Lebens verkündete. “Zeitpunkt des Todes: 12:03”, sagte der Operateur noch, und etwas in mir brach. Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein, oder? Aber ultima ratio bedeutet nun mal, dass es die letzte Möglichkeit ist, die uns bleibt. Und es bedeutet eben auch, dass es schiefgehen kann.

Während der Naht kämpfte ich bereits gegen die Tränen an, aber jetzt die Fassung verlieren? Das ging nicht. Und der Tag war auch noch lange nicht rum, ich musste noch ein paar Stunden durchhalten. Keine Zeit für einen Gefühlsausbruch. Ich musste weiter funktionieren, bis ich schließlich die Umkleide betrat, mir die Haube vom Kopf und den Mundschutz aus dem Gesicht riss, und mich auf der Toilette einschloss. Alles in mir wollte den Schmerz herausschreien und sich verkriechen. Doch für diesen kurzen Moment allein, darf ich jetzt weinen?


© Daria_Renee 2023-07-22

Genres
Novels & Stories
Moods
Herausfordernd, Traurig, Angespannt