Scherben spiegeln Emotionen – in unserer Gesellschaft sind diese sowohl positiv als auch negativ konnotiert. Bei Hochzeiten ist es üblich, teures Porzellan freudig zu zerdeppern, denn ein alter Aberglaube besagt, dass das dem Hochzeitspaar Glück bringt. Ganz anders aber verhält es sich mit Glasscherben, denn die dürfen meistens nicht einmal im herkömmlichen Altglas entsorgt werden. In aller Regel sind sie “nur” Restmüll und jedes Mal, wenn ich im Stillen darüber nachdenke, überkommt mich die Gewissheit, dass der Begriff „Glasscherbenviertel“ sich aus diesem problematischen Restmüllbegriff ableitet.
Im Duden wird ein Glasscherbenviertel als „ärmlicher, heruntergekommener Stadtteil mit schwieriger Sozialstruktur“ definiert. Ich finde, dass das eine viel zu schmeichelnde Umschreibung ist. Ob eine Sozialstruktur in einem Stadtteil problematisch ist oder nicht, ist eine Frage der Erwartungshaltung und der eigenen Ansprüche, denn die Optik der Umgebung sagt nichts darüber aus, was sich im Inneren abspielt. Wir können jetzt über fehlende Infrastruktur, sanierungsbedürftige Wohnbauten, mangelnde öffentliche Finanzierung und weitere offensichtliche Defizite sprechen, aber am Ende sind es immer die Menschen, die dafür sorgen, ob ein Stadtteil positiv oder negativ wahrgenommen wird. Darum sollen auch die Leute darüber sprechen, die es persönlich betrifft und nicht nur die, die von außen zuschauen.
Ich kenne es in- und auswendig, das Leben im Glasscherbenviertel. Unzufriedene, vom Leben gezeichnete und oftmals benachteiligte Menschen, die auf einem geballten Fleck dahinsiechen und sich ihres Daseins bedauern. Festgefahrene Schicksale, die ihres eigenen Lebens ohnmächtig sind. Junkies, Prostituierte, Arbeitslose – oder umgangssprachlich ganz einfach Gesindel. Das ist die gängige Meinung. Aber stimmt das wirklich?
Vielleicht ist es für die meisten von ihnen zu spät. Vielleicht hatten sie gar nie eine Chance, um aus ihrem vorgefertigten Schicksal auszubrechen.
Ausbrechen!? Womit? Wohin? Kein Geld, keine Ausbildung, keine UnterstĂĽtzung, keine Perspektive.
Und wer es doch schafft, kommt mit Sicherheit nie wieder zurück. Es bleibt die berechtigte Frage: Wenn im Glasscherbenviertel wirklich alles so schlecht ist, warum ändert sich dann nichts? Sind wirklich die äußeren Umstände schuld? Ist es ein Staats- bzw. Systemversagen? Oder sind die Menschen dort vielleicht doch zufriedener, als wir es annehmen möchten?
Ich präsentiere euch in diesem Buch einige erstaunliche Meinungen und Schicksale von Menschen, die es wissen müssen. Ihr dürft dann selbst entscheiden, welche Schlüsse ihr daraus zieht.
© Astrid Holzmann-Koppeter 2023-01-23