Das letzte Kapitel

Katharina Bischoff

by Katharina Bischoff

Story
Italien

Der Park war friedlich und still an diesem spĂ€ten Nachmittag. Die letzten Sonnenstrahlen malten goldene Muster auf den grĂŒnen Rasen und die sanft wiegenden BĂ€ume. Auf einer Bank, unter einer alten Eiche, saß eine Frau, die in ein Buch vertieft war. Ihre Gestalt war zierlich, ihre Bewegungen anmutig. Ich beobachtete sie aus der Ferne, mein Blick unverwandt auf sie gerichtet. Ihre Haare, ein Fluss aus seidigem Braun, fielen ihr wie ein schĂŒtzender Schleier ĂŒber die Schultern. Die sanfte Brise spielte mit einigen StrĂ€hnen, die ihr ĂŒber das Gesicht tanzten. Ihr Profil war klar und schön, rosige Wangen und weiche Lippen, die sich hin und wieder zu einem zarten LĂ€cheln verzogen, als wĂŒrde sie auf eine besonders schöne Passage stoßen. Ich konnte den Titel nicht erkennen, doch es schien sie vollstĂ€ndig in seinen Bann gezogen zu haben.

Ich beobachtete, wie ihre Finger die Seiten umblĂ€tterten, elegant und ruhig. In ihren Augen, die hin und wieder vom Buch aufblickten, spiegelte sich die untergehende Sonne. Ein flĂŒchtiger Glanz, der fast ĂŒberirdisch wirkte. Es war schwer, nicht von ihrer Anmut fasziniert zu sein. Der Ausdruck in ihren Augen verriet eine tiefgrĂŒndige Intelligenz, ein VerstĂ€ndnis fĂŒr die Welt, das mich fast zum Zögern brachte.

Fast.

In einem anderen Leben hÀtte ich vielleicht den Mut gefunden, sie anzusprechen, sie kennenzulernen. Aber mein Schicksal war ein anderes.

Ihr LĂ€cheln war warm und herzlich, als sie einem vorbeilaufenden Hund einen Moment der Aufmerksamkeit schenkte. Die Szene war so friedlich, dass es mir fast leidtat, das Gleichgewicht zu stören. Ich blieb geduldig, wartete darauf, dass der Park sich langsam leerte. Der Himmel fĂ€rbte sich in tiefe Orangetöne, Schatten wurden lĂ€nger und die Vögel suchten ihre Nester auf. Der Moment rĂŒckte nĂ€her.

Schließlich erhob sie sich und blickte sich um. Sie schloss das Buch mit einem zufriedenen Seufzer und machte sich bereit, zu gehen. Ich trat aus meinem Versteck, meine Schritte lautlos auf dem weichen Gras. Ihre Schönheit ĂŒberwĂ€ltigend, ihre Anmut betörend, doch meine Entschlossenheit stĂ€rker. Sie wirkte ĂŒberrascht, als ich ihr nĂ€her kam, doch nicht Ă€ngstlich. Das Buch hob sie leicht an, um mir das Cover zu zeigen. Als wolle sie ihre Leidenschaft fĂŒr das Gelesene teilen.

“Es tut mir leid”, murmelte ich. Ein Schatten der Verwirrung zog ĂŒber ihr Gesicht, doch bevor sie reagieren konnte, vollendete ich es. Der Schall gedĂ€mpft, die Bewegung prĂ€zise. Ihre Augen weiteten sich, ein kurzer Moment des Schocks, bevor das Leben aus ihnen wich.

Sanft legte ich sie auf die Bank zurĂŒck. Das Buch fiel aus ihrer Hand und blieb offen auf dem Boden liegen. Der Wind blĂ€tterte die Seiten weiter, als wĂŒrde er ihre Geschichte weitererzĂ€hlen.

Ich trat zurĂŒck. Der Park kehrte zur Stille zurĂŒck, nur das Rascheln der BlĂ€tter war zu hören. Ein letzter Blick auf die Frau, die in einem Buch versunken war – und nun selbst zur Geschichte geworden war.

© Katharina Bischoff 2024-08-04

Genres
Novels & Stories
Moods
Herausfordernd, Emotional, Mysteriös