Das Märchen vom kleinen Kirschbaum

Annalena Ketteler

by Annalena Ketteler

Story

Es war einmal ein Kirschbaum. Klein und zart, etwas vertrocknet. Eines Tages kam ein Mann ins Tal. Er erblickte den kleinen Kirschbaum und kümmerte sich um ihn. Er nahm eine Gießkanne und Wasser und goss den Kirschbaum. Er legte sich in den Schatten des Baumes und hielt ein Nickerchen. Von dort an kam der Mann jeden Tag und goss den kleinen Kirschbaum und verbrachte die Zeit unter dem Baum. Und mit jedem Tag wuchs der Baum etwas mehr. Der Mann sagte zu dem Baum: Im nächsten Sommer musst du ganz viele Kirschen tragen, schließlich habe ich dich nun jeden Tag gegossen und gepflegt. Und im nächsten Sommer, da trug der Baum unglaublich viele Früchte. Also nahm der Mann eine Leiter und einen Eimer. Er kletterte in den Baum und erntete alle Kirschen, auch die letzte ganz oben in der Krone, bis der Baum keine einzige Kirsche mehr trug. Schon fast am selben Tag hatte er alle Kirschen aufgegessen. Und als der Mann am nächsten Tag zurückkam, sah er den Baum an und beschwerte sich: Nun sind schon alle Kirschen weg! Ich habe dich so gut gepflegt, nächstes Jahr brauche ich viel mehr Kirschen. Du musst schneller wachsen! Also kam er das ganze Jahr wieder jeden Tag zum Baum und schaute nach ihm. Jeden Tag sagte er: Du musst mehr wachsen! Ich möchte im nächsten Sommer ganz viele Kirschen ernten. Und als der nächste Sommer kam, war der Baum wieder ein ganzes Stück gewachsen und trug noch mehr Früchte als im Jahr davor. Also stieg der Mann wieder mit Leiter und Eimer in den Baum und pflückte alle Kirschen. Als er wieder vom Baum hinunterkam, nahm er eine Handvoll Kirschen aus dem Eimer und biss genüsslich in eine Kirsche. Doch gleich im nächsten Moment spuckte er die Kirsche wieder auf den Boden. Er nahm noch eine Kirsche und noch eine, aber alle waren sauer. 
Warum nur? Ich habe so viel Zeit in dich investiert, habe dich jeden Tag gegossen! Und jetzt dankst du es mir so?
Wutentbrannt sammelte der Mann ein paar Äste auf, die beim Ernten auf die Erde gefallen waren, stapelte sie am Stamm des Baumes und kramte ein Feuerzeug aus seiner Tasche. Alles umsonst! Sagte er, zündete das Feuerzeug an und warf es auf den Haufen Äste. Er drehte sich um und verließ das Tal. Nach nur einigen Minuten fingen auch die übrigen Äste des Baumes Feuer und der Baum brannte lichterloh. Der ganze Baum verbrannte bis nichts mehr übrig war, außer der kleine Kirschkern, den der Mann auf den Boden gespuckt hatte. 

Der Kirschbaum war tot, aber der kleine Kirschkern wurde beim nächsten Regen in die Erde gespült. Die Asche des Kirschbaums war der perfekte Dünger für den kleinen Kern und schon im nächsten Frühling stand, nicht weit entfernt vom alten Baum, ein neuer kleiner Kirschbaum. Es dauerte einige Zeit, aber schon bald trug der Kirschbaum viele rote und süße Früchte. Am Ende des Sommers fielen alle Kirschen zu Boden und im nächsten Frühling wuchsen aus den Kernen, die auf den Boden gefallen waren, viele neue kleine Kirschbäume. Und schon nach ein paar Jahren wurde aus dem leeren Tal ein ganzer Wald nur aus Kirschbäumen mit saftigen Kirschen.

Doch der Mann wird niemals sehen, was aus dem kleinen Kirschbaum geworden ist. Er kam nie zurück.

© Annalena Ketteler 2024-07-29

Genres
Novels & Stories
Moods
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend
Hashtags