Der Abend existiert nur im Netz

Nora Kantner

by Nora Kantner

Story
New York


New York, 01/2022


Italienisches Leder, auf ihre schmalen Füße gegossen, sitzt sie mit überschlagenen Beinen auf der tiefblauen Samtgarnitur. Für einen Tag wäre ich gerne sie. Mit ihrer Stupsnase voll Koks, den nackten, langen Beinen und dem Boulevardblatt-Lächeln durch die Nacht tanzen. Aber wo versteckt sie ihre Traurigkeit, wenn die Designer-Robe keine Taschen hat?

Auf diese Weise sieht mich Kristen an, als hätte sie beschlossen, meine Maske doch nicht zu wollen, und wendet ihren Blick von meinen Beinen ab.

Obwohl erst sieben Uhr, ist schon alles passiert an diesem Abend. Der Freddie hat ein Loch aufgerissen, mitten im Abend, als er für alle Getränke, Pillen und Zigaretten besorgte. An dieser klaffenden Luke nuckeln die Partygäste so lange, bis der Abend hohl ist. Dann liegt der Abend über alle wie ein Leichensack, eine durchsichtige, ausgesaugte Plane, die nun schwer auf unseren Köpfen wiegt.

Ausnahmslos trägt jeder Maske. Der Freddie vergisst sie manchmal, wenn er wieder voll ist. Meistens färben ihm die Männer dann das Auge blau, weil er mir und den anderen Frauen zu nahekommt. Doch was Freddie nicht weiß, wenn er sein Kostüm ablegt, behält der Champagner das eigene an. Die Promille kleiden sich in goldenem Sprudel und hübschen Etikett, sie sind die wahren Gewinner des Kostümwettbewerbes.

Mein Iphone zeigt elf Uhr, der Abend, wie zu lange gekauter Kaugummi, ist nun nicht mehr nur geschmacklos, aber verklebt auch meine Sinne. Taub steige ich ins Taxi, das Kristen mir gerufen hat.

Das Handydisplay leuchtet ununterbrochen, weil plötzlich alle auf meine Instagram-Story antworten. Der Erfolg misst sich nämlich an den Leuten, die nicht da sind. Der Abend läuft umso besser, je mehr Leute gern dort gewesen wären, aber nicht durften. Und diese Stories sind der pathetische Existenzbeweis einer Party, die schon geendet hat, bevor sie beginnt.

Die Freunde stellen die falschen Fragen, ob meine Verkleidung schön war, der Applaus laut, die Gäste zufrieden. Ich lösche mein Telefonbuch endgültig, weil keiner mich versteht.

Die Kristen bietet mir noch einen Schnaps an zur Beruhigung, so wie wir das nach jeder Show tun. Von der einen in die nächste Stadt reisen wir ohne Ende, wir schweben über den Laufsteg mit erhobenem Kinn, um den Kunden das vorzugaukeln, wofür sie ihr Vermögen geben würden. Klasse.

Und ich verstecke sie, die Traurigkeit, mit Klasse. So gut, dass ich nicht mehr weiß, wo sie ist. Denn sie hat sich aufgelöst in mikrokleine Teile. Seit ich denken kann hat sie sich in mein Blut gemischt, die Traurigkeit, und mein Herz pumpt so, als wäre sie Teil meines Überlebens.


© Nora Kantner 2023-06-20

Genres
Novels & Stories, Travel
Moods
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Mysteriös, Reflektierend
Hashtags