Der Bahnhof (2.Akt)

Emma Arafta

by Emma Arafta

Story
Hauptbahnhof Wien

Und so lebte Fips sein Leben am Bahnhof weiter – nie nur als einfache Maus, sondern als etwas GrĂ¶ĂŸeres, immer als das, was die Welt gerade von ihm verlangte. Mal als Scavo, der listige ÜberlebenskĂŒnstler, mal als Ragnar, der wĂŒtende Drache, als Sami, der treue Freund, Noctis, der kĂŒhle Beobachter oder als Orion, die strategische Schlange. Fips war nie einfach nur Fips – er war alles, was er sein musste, um zu ĂŒberleben.

Der Hauptbahnhof hat sich nach meiner Schulzeit stark verĂ€ndert. Nach jahrelangen Baustellen gibt es jetzt dort alles, was das Herz begehrt. Eine kleine Shoppingmall, viele BĂ€ckereien und CafĂ©s, ein großes kulinarisches Angebot von Asiatisch, zu Indisch oder TĂŒrkisch oder die klassisch wienerischen KĂ€sleberkĂ€ssemmeln – egal um welche Tageszeit, dort verhungert heute so schnell niemand mehr. Und auch Fips ist mittlerweile erwachsen geworden, hat die stĂ€ndigen KĂ€mpfe hinter sich gelassen und sich am Bahnhof ein kleines Imperium aufgebaut. Jetzt lebt er in einem gut versteckten Winkel des Bahnhofs, den selbst ich nicht kenne, wo ihn niemand stört. Sein Unterschlupf ist warm, sicher und so gut getarnt, dass selbst die Ratten, mit denen er einst die Bahnhofsstraßen teilte, ihn kaum finden wĂŒrden. FĂŒr die ist er mittlerweile ohnehin viel zu privilegiert und angepasst – er hĂ€ngt eigentlich gar nicht mehr ab mit ihnen – wenn, dann wird er maximal noch geduldet.

Fips weiß ja bereits von selbst, wie er an genug Essen kommt, ohne dabei aufzufallen. Das ist die wichtigste Regel am Bahnhof: Ja nicht auffallen, schon gar nicht den Menschen, sonst ist die nĂ€chste MĂ€usefalle schneller da als man „Privilegierte-Rich-Maus“ sagen kann. Seine Vorratskammer ist immer gut gefĂŒllt – genug, um selbst die kĂ€ltesten Winter zu ĂŒberstehen, ohne einmal in den Abfallcontainern wĂŒhlen zu mĂŒssen. Eigentlich sollte er satt sein. Was ihm fehlt? Er weiß es selbst nicht so richtig. Die kalten NĂ€chte, die er frĂŒher auf den zugigen Bahnhofsstraßen verbracht hatte, gehören jetzt auf jeden Fall der Vergangenheit an. Bequem verbringt er nun seine Tage in seinem dunklen Versteck und hört dem stetigen Treiben der Bahnhofshalle zu. Die ZĂŒge kommen und gehen, Menschen strömen durch die GĂ€nge, aber Fips bleibt ruhig und gelassen. Er hat alles unter Kontrolle, vor allem die, die sich ihm nĂ€hern. Er hat alles, was er braucht.

« T’as tout mais tu n‘as pas sommeil. » (Sommeil – Stromae)

In schlaflosen NĂ€chten streift Fips durch die GĂ€nge des Bahnhofs, immer auf der Suche nach dem, was ihn wachhĂ€lt. Plötzlich merkt er, wie sich etwas in ihm regt, als er einmal sehr frĂŒh am Morgen an der Felber BĂ€ckerei vorbei tapst. Er kann das GefĂŒhl gar nicht so richtig beschreiben. Wie ein elektrischer Blitz oder ein plötzlicher Adrenalinkick, als wĂ€re er ins kalte Wasser gesprungen – plötzlich ist er hellwach und beginnt mit seiner MĂ€usenase neugierig die Umgebung abzuschnuppern…

© Emma Arafta 2025-04-11

Genres
Novels & Stories
Moods
Herausfordernd, Emotional