Eine Träne tropft auf das auf Hochglanz polierte Holz. Ich höre und sehe es noch heute. Das leise Geräusch, wenn er den Bogen auf die Saiten setzte. Sein Blick, der in die Ferne schweifte. Der Bogen, der sanft über die Saiten glitt und mir einen Einblick ermöglichte. Ein Einblick in sein Inneres. Die sanften Töne, die sich verflochten zu einer Melodie und die nichts als Liebe und Ehrfurcht in den Zuhörern hervorrief. Ein Schauer durchfuhr mich, wenn er spielte. Seine Melodien zeigten ihn, stellten ihn vor. Sie zeigten mir die Welt. Mit dem Bogen beschrieb er unser Kennenlernen, den Heiratsantrag auf dem Boot, die Heirat und die Geburt unseres ersten Kindes, die Abenden, die Spaziergänge, die Urlaube, die lustigen, schönen, ernsten, traurigen und liebevollen Momente in unserem Leben.
Trotzdem ist er gegangen. Er ist aus meinem Leben verschwunden und hinterlässt nichts, außer ein Lied. Ein Lied, das alles verändert hat. Ein Lied, das mir einen Einblick in sein Leben, seine Gefühle und Gedanken ermöglichte. Ein Lied, das mir seine Seele offenbarte. Er war gegangen und hatte seine Geige da lassen müssen. Er hat sie bei mir gelassen. Sie ist alles, was mir von ihm geblieben ist. Sie und eine Melodie, die unentwegt in meinem Kopf spielt, mich gleichzeitig traurig und glücklich stimmt. Wie kann eine Melodie alles sein? Wie kann eine Melodie eine Seele zeigen? Wie kann eine Melodie ein ganzes Leben beschreiben? Er hat es gekonnt. Er hatte es immer geschafft, mit seiner Musik zu kommunizieren. Die Musik war Er und Er war die Musik.
Ein Schluchzer schüttelt meinen Körper, als ich mit der empfindlichen Fingerhaut über die Saite fahre und einen scharfen Ton erzeuge. Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn leben soll. Ihn, die Liebe meines Lebens. Mein Vertrauensmensch, mein Mann, mein bester Freund, mein Gesprächspartner und meine andere Hälfte.
Ich höre wieder die Melodie, summe leise mit und sehe dabei hinaus aus dem Fenster. Hier hat er immer gespielt, den Blick auf den Park gerichtet. Was sah er dort? Wusste er, was seine Musik mit anderen Menschen tat? Wusste er, was seine Musik mit mir tat? Er war gegangen, dorthin, wo ich ihm nicht folgen konnte. Noch nicht.
Ich strich ein weiteres Mal über seinen Schatz. Dort stehen zwei Initialen. Es sind unsere Initialen. Er hat sie hereingeschnitzt, weil er mich liebte. Er liebte mich, ebenso, wie ich ihn liebte. Und nun trauere ich um ihn und wünsche mir nichts, außer noch einmal den Bogen zu sehen, der über die Saiten gleitet und die Töne zu hören, die er erzeugt.Ich würde sie hüten, denn sie ist der Weg zu seiner Seele. Ich wünsche mir nichts, außer einen weiteren Tag mit ihm. Mit ihm und seinen Melodien. Der Weg zu ihm. Mit seinem letzten Lied schenkte er mir etwas, das wertvoller ist, als alles andere. Er schenkte mir den Klang seiner Seele. Er schenkte mir den Klang und Schlüssel seiner Seele und er schenkte mir Liebe. Mit einem unglücklichen Laut reißt eine Saite– ebenso wie mein Herz.
© Fabienne Biermann 2021-07-09