Der kleine Engel bekommt eine Aufgabe

Christa Weißmayer

by Christa Weißmayer

Story
Himmel

Der kleine Engel saß mit überkreuzten Beinen auf einer prächtigen Kumuluswolke und blickte wehmütig in den azurblauen Himmel. So wie seine Schulkameraden hatte auch er sich sehr auf die Ferien gefreut. Doch im Gegensatz zu seinen Freunden fand sich für ihn bis jetzt kein passender Ferienjob. Alle durften sich irgendwie nützlich machen, viele sogar unten auf der Erde, nur er nicht. Es hieß, er sei zu zierlich und könne auch noch nicht durch geschlossene Türen der Menschenhäuser fliegen. Um sich die Zeit ein wenig zu vertreiben, eilte der kleine Engel hinüber zu der grauen Wolkenbank. Er hüpfte auf den dicken Polstern der Haufenwolken auf und ab. Danach schlug er ein paar Purzelbäume. Aber die größte Luftburg machte freilich nur mit Freunden so richtig Spaß. Gelangweilt flog er weiter und immer weiter, bis er vor dem riesigen Himmelsportal landete. Der heilige Petrus befragte gerade ausführlich einen Neuankömmling, ob dieser auch ein guter Mensch gewesen sei und die göttliche Gnade verdiente, denn nur so gewährte er Einlass. Der kleine Engel versuchte sich bemerkbar zu machen und tänzelte um Petrus herum. Schließlich zupfte er den mächtigen Pförtner am braunen Kuttensaum. Petrus glaubte, eine der Himmelskatzen streiche um seine Beine herum und ignorierte die vermeintliche Streunerin.
„Hallo, Herr Petrus!“, rief der kleine Engel mutig.
„Na, wen haben wir denn da?“, antwortete der heilige Petrus mit sonorer Stimme, beugte sich tief hinunter und hob den zierlichen Dreikäsehoch auf seinen Arm. Der kleine Störenfried berichtete über sein hartes Los, immer noch keine Aufgabe zugeteilt bekommen zu haben. Er wollte keinesfalls faulenzen, sondern unbedingt irgendjemandem helfen und Wichtiges erledigen. Petrus musterte den kleinen Engel von Kopf bis Fuß. Nach einer Weile lächelte er zuversichtlich, bestimmt fände sich da etwas. Er fuhr sich nachdenklich über seinen grauen Bart und meinte, er hätte da eine Idee.
„Ich mach’s, ich mach’s“, rief der kleine Engel voll Freude, ohne zu wissen, worum es sich eigentlich handelte.
Petrus strich dem kleinen Engel liebevoll über das lockige Haar und schickte ihn sodann zum Leiter der Kinderbuchabteilung in der größten aller Himmelsbibliotheken, denn dieser schuldete ihm noch einen Gefallen.
Der heilige Laurentius erwartete den kleinen Engel bereits beim Eingang der Himmelsbibliothek. Er benötigte dringend Unterstützung bei der Rücknahme von ausgeliehenen Exemplaren in der Kinderbuchabteilung. Als er den kleinen Engel sah, zweifelte er aber daran, ob das zarte Bürschchen die Bücher zu den Regalen tragen und ordnungsgemäß einzuordnen vermag.
„Ich kann das, ich schaff’s“, rief der kleine Engel, ohne zu ahnen, wie schwer so ein riesiger Bücherstapel sich einen ganzen Tag lang anhängen würde.

Bevor es zur Einschulung ging, mussten einige Unterlagen ausgefüllt werden. Der heilige Laurentius fragte nach Namen und Adresse. Dem kleinen Engel war das äußerst unangenehm, da man ihm nicht nur keine Aufgabe zuteilte, sondern auch weil er bis heute keinen Namen erhalten hatte. Der heilige Laurentius kratzte sich am Kinn, schüttelte verwundert den Kopf und schrieb danach:
Name:
Kleiner Engel Namenlos
Ort: Hinteres Himmelsgewölbe, Am Bergerl 8.

© Christa Weißmayer 2022-01-25

Genres
Novels & Stories
Moods
Komisch, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert, Entspannend
Hashtags