Der Schusterschemel ist leer

Vera Wutti-Inzko

by Vera Wutti-Inzko

Story

Florian sitzt in der Werkstätte eines Überwachungslagers und flickt zerrissene Schuhe. Ein Lastwagen hat wieder einen Berg von altem Schuhwerk am Appellplatz abgeladen. Sind die Schuhe seiner Frau und seiner Kinder darunter? Hat er nicht gestern die Schuhe seines Schwiegervaters geflickt? Es ist das Jahr 1944. Florian weiß, das sind Schuhe von Frauen, Männern und Kindern, die von ihren Höfen und aus ihren Häusern vertrieben worden sind. Auch er und seine Familie wurden deportiert, damals im April 1942. Es ist wieder April. Sein Rücken schmerzt, als er vom Schusterschemel aufsteht und vor die Werkstätte tritt. Sein linkes Bein fühlt sich taub und kraftlos an. Das Areal ist menschenleer, ein Geisterlager mit einem oft abwesenden Lagerführer, der Krankenschwester, der Köchin, der Frau im Büro und vier Männern, die unablässig Schuhe reparieren.

Ende 1943 war Florian hierher überstellt worden. “Nicht fronttauglich wegen früherer Verletzung. Weiter arbeitstauglich für die Heimat”, stellte der Lagerführer fest. “Familie?” Die Frage kam so unvermittelt, dass Florian ihm wie auf Geheiß das Foto reichte, das er immer bei sich trug: seine Frau mit dem jüngsten Kind am Schoß, ein hagerer Mann mit schmalem Gesicht und schütterem Haar, um sie herum fünf Mädchen und zwei Jungen, alle in Sonntagskleidern. Es ist Ostern, einer der letzten Sonntage daheim vor dem Haus mit der Schusterwerkstätte. Der Lagerführer warf einen Blick auf das Foto, nickte der Frau am Schreibtisch zu und verließ das Büro. „Zeigen Sie mir auch das Foto?“ Sie hielt es lange mit beiden Händen, dann legte sie es behutsam neben die Schreibmaschine. Während sie mit der Registrierung fortfuhr, hielt sie es mit den Augen fest.

Florian geht langsam den Appellplatz entlang. Sein Blick fällt auf Baracken und das verwitterte Gemäuer des Schlosses gegenüber. Um das abweisende Gebäude kriecht der Frühling wie eine große Echse in schillerndem Grün. „Helfen Sie mir bei der Arbeit im Garten?“ Die Frau aus dem Büro des Lagerführers steht hinter ihm. In der Werkstätte bleibt jetzt ein Schemel leer. Es ist April und Florian ist Gärtner. Er recht die Wege, karrt Dünger heran, sticht die Erde um und gräbt seinen Schmerz tief in die Beete. Er lockert und düngt sogar den Boden unter den Kirschbäumen. Die Frau arbeitet flink, geschickt, meist schweigend. “Ich habe keine Kinder”, sagt sie einmal wie zu sich selbst.

Der Schusterschemel ist wieder leer. Florian liegt in der Baracke. Der Schmerz ist zurück und zerrt wild am Bein wie ein hungriger Kettenhund. Zu Mittag geht die Türe auf. Die Krankenschwester tritt an sein Bett. Neben ihr steht die Frau aus dem Garten und reicht ihm eine weiße Schachtel. Er richtet sich zögernd auf. „Ist Post gekommen? Was ist das? Für wen ist das?” „Für Sie. Danke für die Hilfe. Öffnen Sie vorsichtig.“ Verwirrt hebt er den Deckel. Auf einem Teller liegen ein großes Stück Nusstorte und eine kleine Gabel. Es ist der 4. Mai 1944. Floriani-Tag. Mein Großvater weint.

© Vera Wutti-Inzko 2021-04-20

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