Der Sommer war sehr groß

Ulrike Puckmayr-Pfeifer

by Ulrike Puckmayr-Pfeifer

Story

Es ist Herbst geworden.

„Der Sommer war sehr groß.“ Ich denke an Rilke und dieses schöne Herbstlied von ihm. Letztes Jahr um diese Zeit bin ich mit meiner Freundin den Rilkeweg gegangen. An einem wunderschönen sonnigen Tag, als hätte der Herbst Pause gemacht.

Jetzt sitze ich da auf der Terrasse bei meinem Morgenkaffee, warm eingepackt in zwei Morgenmäntel und Socken. Eine Katze sitzt bei meinen Füßen und wärmt sie. Eine andere auf meinem Schoß und wärmt meine Seele, während ich schreibe. In meine Finger kriecht die Kälte. Ein Vogelkonzert in den Bäumen als Begleitmusik.

Ich bin im Herbst meines Lebens angekommen. „Wer jetzt kein Haus hat, wird sich keins mehr bauen. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und in den Alleen unruhig wandeln, wenn die Blätter treiben.“ Diese Zeilen berühren mich tief. Ich übertrage sie auf mein Leben. Ich habe ein Haus, ein altes. Da und dort immer noch Spuren der Vergangenheit. Es ist das Haus meiner Ahnen, meiner Vorfahren mütterlicherseits. Voll von Erinnerungen. Als Kind wollte ich hier leben. Ich fühlte mich geborgen in der liebenden Wärme meiner Großtante und meines Großonkels.

Später, als junge Erwachsene, wollte ich weg vom Dorf, wo jeder jeden kennt, in die Anonymität der Großstadt. Ich versuchte in Wien Wurzeln zu schlagen. Ich habe geheiratet, eine Familie gegründet, gearbeitet. Und doch fühlte ich mich immer ein wenig fremd dort.

Irgendwann in der Mitte meines Lebens wollte ich auswandern. Ans Meer in ein Haus mit Blick auf das Wasser. Und am Abend mich durch das sanfte Rauschen der Wellen in den Schlaf tragen lassen. In Spanien oder auf einer griechischen Insel. Fernweh. Romantische Träume.

Den Schmerzen meiner Kindheit kann ich nicht entfliehen. Und den Bildern meiner Erinnerungen auch nicht. Sie sind in mir. Mitnehmen würde ich sie auf die schönste Insel, in das schönste Hotel, in das schönste Haus. Vielleicht würde ich dort sanfter leiden. Wer weiß.

Ich schreibe keine langen Briefe. Ich schreibe E-Mails und hier auf strory.one meine Geschichten über mein Leben. Erinnerungen lasse ich in Worte fließen und lesbar und zugänglich werden für andere Menschen. Das fühlt sich gut an und schafft ein Gefühl von Verbundenheit.

Ich mache lange Spaziergänge in den Weinbergen und zum See.

Mein Weg führt mich auch auf den Friedhof an das Grab meiner Vorfahren. Ich zünde Lichter an, gehe dort ein wenig spazieren, bleibe vor dem einen oder anderen Grab stehen und studiere die Geburts- und Sterbedaten. So kurze Leben manchmal. Und dann wieder eine große weite Lebenspanne. Als Kind schon habe ich das gemacht, während meine Großmutter die Gräber pflegte. Es hat mich nachdenklich gestimmt. So wie heute auch.

© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2020-10-19

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