Es kam die Zeit, an dem eines Tages zu Tag Eins wurde und ein in die reifen Jahre gekommener, alter Schwan, der in seinem Leben mit aller Leidenschaft und viel geliebt hatte, ein letztes Mal über den See glitt, welchen er einstweilen eine Heimat nannte. In aller Eleganz neigte er den biegsamen Hals zum Wasser hin und blickte im Wechseltakt seiner Perspektiven sowohl in die Abgründe, die sich unter der Oberfläche seines Spiegelbilds vertieften als auch in die Höhen, die ihm der Himmel reflektierte. Er tat dies so lange, bis er die Ursache begriff, die ihm im brühend heißen Juli zitternde Kälte und Müdigkeit verwirkte, als wäre klirrend frostiger Winter. Der Schwan vernahm, dass er allmählich genug gelebt, erkannt und alles verstanden hatte, was er in diesem Leben verstehen musste, – seine Stunde geschlagen und er wohl zum Sterben bereit war.
Die stolze Pracht seines Federkleids strahlte noch genauso schneeweiß, wie am ersten Tag seines Lebens, wenngleich sich darunter tiefe Narben vom Erfahrenen wiederfanden. Seine vielen Jahre hatte er in allen Höhen und Tiefen immerzu golden verlebt, so wog er sich nun bereit Abschied zu nehmen und sein Leben in tragischer Schönheit zu beschließen. Feierlich hob er also seinen Hals und steuerte langsam und gediegen unter die Linde, in deren Obhut er seiner ersten großen Liebe gedient hatte. Ihr kühlender Schatten war seit jeher der Ort geworden, wo er an heißen Tagen Zuflucht suchte und sollte in aller symbolischen Bedeutung auch sein Schicksal beschließen.
Zur Abenddämmerung, als der Sonnenuntergang dem See ein tiefes Violett zur Spiegelung färbte und sich in der umliegenden Natur das Schweigen der Nachtruhe allmählich vergegenwärtigte, begann der Schwan ein letztes Mal seinen Gesang anzustimmen. Seine harmonischen Melodien schwebten und verteilten sich meilenweit in der Umgebung. Alles, was seinen Tönen an heilsamer Frequenz inne lag, speicherte sich im Wasser des Sees, gefiltert – während auch der letzte Trauerklang seines Abschieds eins mit dem letzten Lichtstrahl am Horizont wurde und sich darin, still und leise, im Schweigen verlor.
»Das ist es«, spürten alle Bewohner des Sees, melancholischen Herzens gerührt. Und auch die ringsherum nistenden und fliegenden Vögel sowie Bewohner der weiten Wälder murmelten in sich trauernd, gewiss: »Das ist es. Das muss das Ende sein.«
© Louis Eikemper 2024-06-14