Die Stadt mit den roten Dächern (1)

Vio

by Vio

Story

Fast die Hälfte meines Daseins lebe ich nun schon in der Stadt mit den roten Dächern. Und noch immer verirre ich mich hier. Da meint man, man kennt seinen Wohnort und stellt dann doch immer wieder fest, dass man so etwas wie einen Ort eigentlich nie kennen kann. In dem Moment, in dem man glaubt, die Stadt erfasst zu haben, entfällt sie einem schon wieder. Genau darin liegt wohl ihr Zauber.

Seit C. zeichnet sich das Leben hier durch eine besondere Leere aus. Keine menschenüberfüllten Fußgängerzonen, die eine Radfahrt im Schritttempo erzwingen; keine Motoren, die das Vogelgezwitscher übertönen; kein Gegröle von Betrunkenen, das mich an Freitag- und Samstagabenden an jugendliche Eskapaden erinnert.

Seit den veränderten Umständen zeigt sich G. von einer ganz anderen Seite. Nie ganz laut, nie ganz voll, als wäre immer Sonntag. Ich liebe Sonntage. An diesem Tag mache ich oft einen Spaziergang. Den Fluss entlang, im Park, in den Wäldern am Stadtrand, auf den Sch.-Berg. Dort bin ich gern, dort hat man den schönsten Ausblick. Dort gibt es unzählige Wege, auf denen man sich verirren kann und schlussendlich doch immer ganz oben oder unten ankommt. So wähle ich auch heute den Aufstieg über die Ostseite und biege dann von der Straße auf den schmalen Pfad Richtung Norden ab. Mein Blick schweift den Hang hinab. Schön, dass sich diese nette Frau noch immer um die herumstreunenden Katzen kümmert.

Am Waldweg angekommen verzaubert der Efeu die trostlose Natur in eine verwunschene Märchenlandschaft. Er umschlingt die kahlen Äste der Bäume, als würde er sie vom kühlen Wind, vom eisigen Frost der Nacht schützen wollen. Auf dieser Bank saßen wir an manchen Vollmond-Abenden, tranken Rotwein aus Marmeladengläsern und starrten auf die Lichter der Stadt, die ein abstraktes Gemälde bildeten. Hier hast du mir „Die Kunst des Liebens“ geschenkt. Damals wussten wir noch nicht, dass wir diese Kunst ohneeinander erlernen sollten.

Ich halte mich nicht länger auf, sondern folge dem Weg, versinke immer tiefer in der Märchenwelt. Mitten auf der Brücke über der Bergbahn bleibe ich stehen. Wie jedes Mal. Atme die Stadt ein und wieder aus, dann laufe ich immer weiter und weiter hinunter. An einem dieser Hausgärten vorbei, wo ich nach einer durchfeierten Dezembernacht mit ihm und ihr und einem Kaffee in der Hand den Anblick der verschneiten Altstadt genoss.

Auf und ab, ab und auf; jetzt gelange ich zu den Stiegen. Hier, genau am letzten Vorsprung mache ich halt. Nun bin ich mit den roten Ziegeln auf einer Höhe. Mein Blick wandert über die Dächer. Sie bilden den Horizont, der die Erde vom Himmel trennt. Hier bin ich EINS mit der Stadt. Weder mustere ich sie von oben wie eine Abstraktion, noch irre ich in den engen Gassen umher.

Von unten ertönt das Bimmeln der Straßenbahn, ein Lachen. Oben gleiten im tänzerischen Flug die Vögel. Dazwischen ich mit der Gewissheit, dem Wesen der Stadt ganz nah zu sein.

© Vio 2021-05-24

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