Fallschirmphobie

Silvia Peiker

by Silvia Peiker

Story
Wien

“Für mich war es ein gänzlich neuer Abschnitt in meinem Leben, denn wegen meiner Mutter konnten wir ja nirgendwo hinfahren. So freute ich mich auf die Zugfahrt. Ich war ja nicht die einzige junge Frau, die zum Arbeitsdienst verschickt wurde. Neugierig war ich natürlich, denn ich wusste nur, dass ich in einer Fabrik arbeiten sollte. Ich konnte mir nichts darunter vorstellen, hatte keine Ahnung, wie hart und lang die Arbeitstage dort werden würden.”
Wieder wurde Helenes Redefluss von einer Schwester unterbrochen, die uns beiden das Abendessen auf einem Tablett aufs Nachtkästchen stellte. Zwei Tage nach unserer Operation hatte sich der Appetit wieder eingestellt und wir löffelten brav unseren Grießbrei, um wieder zu Kräften zu kommen. Doch kaum hatte die trotz ihrer Knieoperation recht fidele 80-Jährige ihren Löffel aus der Hand gelegt, setzte sie auch schon ihre Erzählung fort:

“Vom Ostbahnhof fuhr ich mit anderen mir unbekannten Mädchen zuerst nach Prag, wo wir in eine Garnitur nach Seifhennersdorf umsteigen mussten. Die Fahrt dauerte Stunden. Für mich war es der Beginn eines Abenteuers, das ich mir gänzlich anders vorgestellt hatte. Einerseits war ich froh, aus meiner Geburtsstadt wegzukommen, andererseits fürchtete ich mich ein wenig davor, in der Fremde keine Freunde zu finden. Ich und die anderen beiden Mädchen schnatterten aufgeregt über unsere Zukunft. Es war ja ganz normal damals, dass wir Frauen auch unseren Dienst am Vaterland, so wie die Männer, ableisten mussten.”

“Seifhennersdorf, diesen Namen habe ich noch nie gehört.” Mir war noch nicht klar, aus welchem Grund Helene so weit hatte reisen müssen, wenn es doch in Wien und Umgebung genug Bauern, Fabriken, Kindergärten oder Krankenhäuser gab, wo sie ihren einjährigen Reichsarbeitsdienst hätte antreten können.

“Die Stadt liegt an der tschechischen Grenze, weniger als 100 km von Dresden entfernt. Von Sachsen habe ich nicht viel gesehen, denn wir Mädels mussten bis zu zwölf Stunden roboten, und das Tag und Nacht.” Die Finger meiner Zimmergenossin fuhren müde durch ihr dichtes, weißes Haar, das sie sehr kurz trug. “Nichts geht über einen 8-Stunden-Arbeitstag. Wenn man jung ist, hält man einiges aus. Aber Leben war das keines.”

“Was mussten sie denn in der Fabrik tun?”

“Fallschirme nähen. Sie können sich nicht vorstellen, wie mir das zuwider war. Diese riesigen Planen Stoff und wie kompliziert das mit den Leinen war.”



© Silvia Peiker 2024-02-16

Genres
Novels & Stories
Moods
Emotional, Reflektierend
Hashtags