by Lena Keßler
Innerhalb kürzester Jahrzehnte entwickelte sich eine neuartige Großelterngeneration mit dem ausgeprägten Hoch-lebe-unser-Enkel-Gen(-Deffekt). Diese Generation zeigt sich beängstigend eroberungslustig und überambitioniert im Erziehungsprozess. Hier ein kleiner Ratgeber für den Umgang mit dieser neuen Spezies.
Noch heute habe ich die Worte meiner 96-jährigen Großtante im Ohr: „Zu meiner Zeit wurde kein großes Aufsehen um uns Kinder gemacht. Wir halfen oftmals auf dem Feld und liefen halt so mit.“ Wäre die gute Tante Olga mal ein paar Jahrzehnte später aufgewachsen. Dann nämlich wäre sie bei jedem einzelnen Besuch von Oma und Opa hofiert und auf einen kleinen selbstgeschreinerten Thron gesetzt worden. So schnell kann es manchmal gehen mit dem Generationswandel. Wurde man früher am Telefon noch nach seinem Befinden gefragt, so erntet man als junge Eltern heute oftmals ein unterschwellig brodelndes „Na, wann sehen wir denn mal unseren Enkel wieder?“ Wenn man schließlich voll bepackt und übermüdet, um ein paar aufmunternde Worte heischend, vor der heimischen Haustür angelangt, wird diese ruckartig geöffnet und mit einem Schwupps verschwindet der wehrlose Nachwuchs in den Armen der gluck(s)enden Großeltern.
Mit Argusaugen wachen sie fortan über Mützchenwahl und Milchvergabe. Lediglich Wickeln und Füttern (unter Beobachtung) werden den verwaisten Eltern zugestanden. Es werden Fotos von jedem Fingernägelchen geschossen, einst verschollen gewünschte Nachbarn zum Bestaunen des Enkels ausgegraben und die Augen glasig. Ich frage mich nur: Woher kommt dieser ambitionierte Stolz heutzutage? Okay, liebe Großeltern, ihr habt die DNA für die DNA beigesteuert. Die Serie der Stammeshalter wurde erfolgreich fortgeführt. Und selbstverständlich ist euer Enkel ein ganz besonderes Prachtexemplar. Doch deswegen muss er ja nicht gleich innerhalb seines ersten Lebensjahres drei verschiedene Sorten Erdbeerkuchen in pürierter Form verkosten oder sein eigenes kleines Namensschild auf dem Chefsessel des Familienunternehmens erhalten. Warnt nicht gerade ihr uns gern davor, unsere Kinder zu verziehen? Dann nehmt doch lieber erst einmal ihr ein wenig Wind aus euren Helikopterflügeln.
Für einen sanften Einstieg empfehle ich zunächst eine Reduktion der schier endlosen Spitznamen. Drei Stück reichen vollkommen aus. Fortgeschrittene könnten sich im Mäßigen des Eigenlobs üben. Aussieben ließen sich zum Beispiel „Das Lachen hat er aber von mir!“, „Ich konnte das Köpfchen auch schon so früh heben!“, oder „Der macht ja schon in die Windel wie der Opa!“. Lobt doch stattdessen einmal wieder eure Kinder, wie gut sie sich doch eigentlich schlagen (trotz ungeputzter Zähne und vollgespucktem Hemd). Lieber sich gemeinsam vorm Abheben bewahren, als gegenseitig Generationswettkämpfe über Erziehungsratgeber auszutragen. So haben am Ende alle was vom Familienzuwachs und die nächsten Telefonate klingen schon deutlich entspannter.
© Lena Keßler 2023-08-07