Auf seinem Weg zum Prozess musste er das Schloss passieren. Er war hier fremd und kannte sich nicht aus; ein aus der Form geratener Mensch im Hotel hatte ihm jedoch die Auskunft gegeben, dass er auf schnellstem Wege zum Gericht gelange, wenn er am Schloss vorbeiginge. Der Mensch war geschwätzig und wollte ihm noch Weiteres anvertrauen. Er aber wollte davon nichts hören. Nun, er musste von Ost quer durch die Stadt gen West und mitten darin werde er wohl doch etwa das Schloss ausfindig machen, um es als Wegweiser nutzen zu können. Es eilte nur allerdings, denn der Prozess stand jeden Moment bevor. Er wollte also schnörkellos losspazieren. Er war von hoher Gestalt und hatte lange Beine, die ihn schnell, jedoch ziellos vorantrugen. Den Menschen ließ er unbillig stehen.
So schritt er zunächst an ein paar verlorenen Bäumen vorüber, die die Köpfe einstimmig hängen ließen. Weiter ging es über eine Brücke, die über eine Straße führte; wohin die Straße führte, war nicht zu erspähen. Die lange Brücke in großen Schritten herabgewandelt, kam er in eine Art Vorpark. Das Schloss umgab den Beschreibungen des Menschen nach ein Park, der von einem, wie es einer herrschaftlichen Residenz gebührte, stattlichen Zaun umschlungen war. Diesen Park säumte, wie es schien, ein weiterer unumzäunter Park. In diesem Lustgarten begegnete er einem Käfer, der mitten auf dem Wege auf seinem Rücken lag und mit den kleinen Beinchen strampelte. Am Rande der Promenade standen Gräser, und so nahm er einen dicken Grashalm und reichte ihn dem hilflosen Geschöpf. Das kleine Ding ergriff den Halm fest und nickte dem Angeklagten dankbar zu.
Weiter ging es; da sah er den Zaun und freute sich darüber, denn das Schloss konnte nicht mehr fern sein. In seiner Fröhlichkeit vergaß er ganz den Prozess und schlenderte in dem inneren Park umher, genoss den Wind um die Nase und den Sonnenschein im Rücken. So in seine Wanderschaft vertieft, sann er über seine Zukunft nach, und es schien ihm unmöglich, seinen Weg zu finden – da er doch angeklagt war und das alles. – Ach ja, der Prozess! Ach Gott, das Schloss! Es dämmerte inzwischen und er wusste nicht mehr ein noch aus. Es war unmöglich, das Schloss zu finden; ebenso war es unmöglich, zum eigenen Prozess zu spät zu kommen. Er dachte an das Käferlein, das arme Ding, und fühlte sich geradeso hilflos. Kein Mensch weit und breit, der ihm einen Halm hätte reichen können. Der Geschwätzige von vorhin wäre ihm in diesem Augenblick ein sehr lieber Weggefährte gewesen. Er spürte eine Verwandlung in sich vorgehen. Es dunkelte jetzt gänzlich und es durchlief ihn das dringliche Verlangen, zum Hotel zurückzukehren und dem Menschen seinen Dank für die Hilfsbereitschaft auszudrücken. Da bog er gerade um die Ecke und prallte mit einem festen, runden Bauch zusammen. Den Bauch, oder eher den Anorak, der den Bauch umspannte, erkannte er frohlockend wieder, und er konnte seinem Herzenswunsch sogleich nachkommen. Dick und Dünn gingen alsdann gemeinsam den Weg entlang, schnurstracks am Schloss vorbei und bald durchs Zauntor auf westlicher Parkseite. Das Geschwätz des Dicken machte den Dünnen, Langen seinen Prozess neuerdings vergessen und so schlenderten sie unbeschwert einher…
© Louise Ziegler 2024-08-23