Weihnachten – das Fest der Liebe und der Familie stand vor der Tür. Im Buch der polizeilichen Erfahrungen ist es entweder der Tag der absoluten Funkstille oder der kleinen und großen Familiendramen.
“Fahren sie zu einer tobenden Psychose. Jugendlicher vermutlich unter Suchtgifteinfluss” lautete der Funkspruch um die Mittagszeit. Als die Einsatzadresse genannt wurde, wusste der Inspektor sofort um wen es geht. Bei der Anfahrt ließ sich er sich die Vorgeschichte durch den Kopf gehen.
Die Eltern des Jungen ließen sich vor ein paar Jahren scheiden und er zog mit seiner Mutter in einen anderen Bezirk. Sie hatte sofort einen neuen Lebenspartner gefunden, dem sie ihre ganze Aufmerksamkeit widmete – dem Alkohol. Er wuchs nahezu unbeaufsichtigt auf und als der Missstand für Schule und Jugendwohlfahrt unübersehbar war, kam er zurück zu seinem Vater. Der war mit der Erziehung eines pubertierenden Teenagers hoffnungslos überfordert und das Drama nahm seinen Lauf. Obwohl er ein unscheinbares Bürschchen war, versammelte er eine Gang um sich und sie begannen mit mutwilligen Sachbeschädigungen und kleinen Diebstählen. Da es sich um keine hartgesottenen Berufsverbrecher, sondern um fehlgeleitete Jugendliche handelte, war immer einer dabei der die Tat gestand. Er war meistens federführend beteiligt und so sammelte er Anzeige um Anzeige. Er fuhr auch gerne mit dem Auto, nur war er nicht alt genug für den Führerschein und borgte sich das Auto von anderen aus, die nichts davon wussten. Zwei dieser Spritztouren endeten im Straßengraben, wobei Gott sei Dank niemand schwer verletzt wurde. Er begann mit Drogen zu experimentieren und sein Name tauchte immer öfter bei Ermittlungen in der Drogenszene auf. Die Einzige, die bedingungslos zu ihm hielt, war seine Großmutter. Sie beglich die Schäden, die er verursacht hatte, zahlte die Strafen, brachte ihn zuverlässig auf den Posten, wenn er wieder was angestellt hatte. Als er seinen Vater, um dessen Barreserven erleichterte, setzte auch er ihn vor die Tür. Vo da an wohnte er bei seiner Oma. “ Ich kann ihn nicht in Stich lassen. Er hat ja sonst niemanden mehr.” sagte sie jedes Mal in der Hoffnung, dass er doch noch die Kurve kriegt.
Als der Inspektor an der Wohnadresse eintraf, war dort eine verzweifelte Oma, die von uns verlangte ihn einzusperren. Er hatte irgendein chemisches Zeug geschnupft und war aggressiv gegen alles und jeden. Gleichzeitig mit der Polizei wurde auch die Rettung alarmiert. Der Rettungsfahrer kannte den Jungen seit seiner Geburt und konnte ihn überzeugen, dass er zur Untersuchung ins Spital mitfährt. Es war zwar keine Lösung, aber es brachte zumindest den vorübergehenden Weihnachtsfrieden im Hause.
Zurück blieb die verzweifelte Oma, die ihrem Sorgenkind am Heiligen Abend die Herberge verweigert hatte. Alle die auf ein Weihnachtswunder hofften, wurden enttäuscht. Das Schicksal nahm gnadenlos seinen Lauf, denn es war sein letztes Weihnachtsfest in Freiheit…
© Johann Köppel 2022-12-19