by Mikaila
Da war sie wieder, diese Ohnmacht verursachende Angst vor dem morgigen Tag. „Kluge denken an morgen“ leuchtet es von einem Aufkleber in der Küche, der eine kleine grinsende Biene zeigt. An morgen denken fühlt sich an wie Atemnot, wie Schockstarre, letztendlich wie hilfloses Ertrinken. Ohne es zu wollen, sind meine Gedankenwirbel gerade dabei, mich in einen scheinbar nie enden wollenden Meeresabgrund zu ziehen. So muss sich es sich anfühlen, fliegen zu können. Ich schwebe schwerelos dahin. Gezogen von einer unsichtbaren Kraft. Eine Kraft, die es nicht zulässt, Kontrolle über meinen eigenen Körper zu behalten. Alles rund um mich erscheint mir sagenhaft weich. Beinahe angenehm, wäre da nicht dieses eindringliche Rauschen in meinen Ohren. Ich verliere meine komplette Orientierung. Ich weiß nicht mehr wo oben und unten ist. Ich weiß auch nicht, wie lange ich schon schwebe. Das Rauschen wird lauter. Plötzlich verschwindet das Gefühl von Leichtigkeit und meine Muskeln beginnen sich zu verkrampfen. Jetzt wird es gleich passieren. Nicht mehr lange und es gibt einen fürchterlichen Aufprall. Ich kann es förmlich spüren, wie mich diese unsichtbare Kraft noch stärker zu sich zieht. Es schnürt mir die Kehle ab und ich weiß, gleich ist es so weit. Ein eindringlicher Schrei fährt durch meine Glieder. Nichts – es gibt keinen Aufprall, nur einen dumpfen Stoß gegen meinen Oberkörper. Eine vertraute Stimme reißt mich jäh in die Realität zurück. „Was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut? Wir wollen endlich nach Hause fahren“, höre ich die Stimme meiner Mutter. Sie hält meine beiden Schultern fest und schaut mir tief in die Augen. „Alles gut“, rutscht es mir ganz automatisch über die Lippen. Das sanfte Licht der Abendsonne, das durch die kleinen Fenster in den Raum fällt, blendet meine weit aufgerissenen Augen. Meine eben noch schwerelosen Füße spüren plötzlich wieder harten Boden. Dabei fühlt sich mein Körper an, als hätten sich sämtliche Knochen aufgelöst. Einigermaßen stehenzubleiben kostet mich in diesem Moment wahnsinnig viel Kraft.
Als ich wieder klar denken kann, stehe ich immer noch in der kleinen Küche. Einst weiße, nun aber mit bunten Aufklebern übersäte Fliesen prangen hinter der Herdplatte. Die Biene grinst immer noch gleich penetrant und rät allen Klugen an morgen zu denken. Ich hole kurz und unbemerkt einen tiefen Atemzug und stelle mich dann wieder völlig belanglos zu meinen Schwestern. Die beiden sind mit sich selbst beschäftigt und bemerken mich nicht einmal. Sie streiten um irgendein wertloses Spielzeug. Die Erwachsenen im Raum, meine Mutter, meine Großmutter und deren Schwester, sind dabei sich zum wiederholten Male voneinander zu verabschieden. Ich bedanke mich höflich bei der Schwester meiner Großmutter für den Nachmittag und verabschiede mich auch von deren Tochter. Wir hatten viel Spaß, bis dieser Aufkleber meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
© Mikaila 2022-07-15