Die schlechteste Kindergeschichte ist die, die nur von Kindern gelesen wird. Und so kam ich auf die Idee, beim Aufräumen auf dem Dachboden meine kleinen Schätze von damals wieder etwas genauer zu betrachten.
Und schon fiel mir auch schon mein Lieblingskinderbuch in die Hände. ‘Tausend Gefahren’ – ein Buch, bei dem man als Lesender selbst entscheiden durfte, wie die Geschichte wohl weitergeht. Wie cool ist das bitte? Schon die erste Entscheidung hat es in sich. Geht man nun am Strand entlang oder klettert man die steilen Felsen empor. Ich selbst bin eher unsportlich, das gilt jedoch nicht für mein ‘Buch-ich’. Wagemutig bahnt sich die Figur nun also eine steile Felswand hinauf und hangelt sich Stück für Stück zur Spitze des Berges.
Entscheidung für Entscheidung gelange ich tiefer in eine fantasievolle Inselwelt. Nach jeder Auswahl beginnt das neue Kapitel auf einer anderen Seite weiter vorne oder hinten im Buch. Schließlich wirken sich die Entscheidungen auf den Gesamtverlauf der Story aus. Trifft man neue Leute? Findet man einen Ausweg? Wird am Ende alles gut oder wird man die Insel nie wieder lebend verlassen?
Als ich endlich auch die letzte Entscheidung getroffen habe und das Buch gerade wieder zurück an seinen Platz stellen will, wird mir etwas klar, dass ich all die Jahre übersehen hatte. Trotz der unglaublichen Geschichte ist das Buch gar nicht so realitätsfern!
Denn wie im Buch treffe ich jeden Tag eine ganze Reihe Entscheidungen. Angefangen bei ‘steh ich gleich auf oder bleibe ich noch 5 Minuten länger liegen?’, dann würde ich 5 Minuten später als sonst das Haus verlassen. Vielleicht verpasse ich dann den Zug und muss stattdessen mit dem Auto fahren.
Im Zug hätte ich aber die Chance, jemanden kennenzulernen. Da gibt es die ältere Dame mit Gehstock, die vielleicht Hilfe beim Einsteigen benötigt. Ich könnte einem interessanten Gespräch des Sitznachbarn entgehen, der sich bei seiner Freundin über seine Frau beschwert. Und nicht zuletzt würde ich mit meinem freundlichen Lächeln den Tag des Schaffners, der die Fahrkarten kontrolliert, ein wenig aufheitern. Sein Job verlangt ja doch einiges von ihm ab und es gibt bestimmt viele Tage, an denen er mit unfreundlichen Passagieren zu tun haben muss.
Aber würde ich mit dem Zug fahren, hätte ich bestimmt meinen Regenschirm liegen lassen. Mit nassen Haaren hole ich mir vielleicht eine Erkältung. Dann würde ich lieber noch eine Station weiter fahren und hoffen, dass der Regen nachlässt. Im Auto könnte ich mein Lieblingslied auch gleich laut mitsingen, ganz ohne, dass sich plötzlich zwanzig Köpfe in meine Richtung umdrehen und so seltsam schauen. Ja, ich sing wunderschön – euer Neid ist berechtigt!
Und am Ende des Tages würde ich auf eine ganze Reihe Gelegenheiten zurückschauen können, die ich verpasst hätte, würde ich nur nochmal 5 Minuten länger im Bett bleiben.
Jede einzelne Entscheidung, sei sie auch noch so unbedeutend, kann am Ende ein komplett anderes Leben bedeuten.
© Dorothée Deitert 2021-11-22