by HilivonLinde
Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen heute und den Erinnerungen an die Heldin meiner Kindheit. Als sehr ruhiges und eingeschüchtertes Kind, waren die ersten Jahre in der Schule schrecklich. Einen Kindergarten zu besuchen war damals auf dem Land nicht möglich, da es einfach keinen gab. Aufgewachsen auf einem Bauerndorf, indem es keine weiteren gleichaltrigen Kinder gab und Lehrer noch wirklich angst einflößende Autoritäten waren, war der Schulbeginn von vielen Ängsten begleitet. So habe ich die erste Klasse, dank einer sehr liebevollen jungen Lehrerin gut überstanden. Umso schrecklicher gestaltete sich der Lehrerinnenwechsel in der zweiten Klasse. Mit strengem Blick und hoch-toupierter Frisur stand sie vor der Tafel. Sie gehörte noch zu der Generation von Lehrern, die im Nationalsozialismus, die Hitlerjugend ausgebildet hat. Wenn sie mich mit lauter Stimme beim Nachnamen aufrief, um das Einmaleins aufzusagen, zitterte ich innerlich um nur ja keinen Fehler zu machen.
Zu Weihnachten lag ein Buch über ein rothaariges Mädchen für mich unter dem Christbaum. Dieses kluge Geschenk des Christkindes sollte für mich große Bedeutung bekommen, nicht nur, dass ich sehr schnell eine gute Leserin wurde, half es mir den schrecklichen Schulalltag immer mutiger zu überstehen.
Als ich wieder einmal streng mit meinem Familiennamen aufgerufen wurde, während Kinder aus Familien die regelmäßig etwas Bakschisch vorbeibrachten liebevoll mit Vornamen angesprochen wurden, musste ich an meine Freundin Pippi Langstrumpf denken und schon ließ das Zittern nach und das Einmaleins flutschte so sehr, dass ich sogar ein Lob bekam. In meiner Fantasie hörte ich das freche Mädchen singen:
Zwei mal drei macht vier
Widdewiddewitt und drei macht neune,
ich mach’ mir die Welt
Widdewiddewitt wie sie mir gefällt.
Sehr bewegt hat mich auch das Kapitel, als die liebe Pippi ins Kinderheim sollte und sie sich tatkräftig gegen die Polizisten Kling und Klang durchgesetzt hat. Mit dieser starken unsichtbaren Freundin im Rücken wurde das schüchterne Mädchen, das ich war, immer mutiger. Zu Hause, wenn ich nach den Hausaufgaben für die Schule noch die Hühner gefüttert und Holz ins Haus geräumt hatte, war das wichtigste mich mit meiner geliebten Pippi Langstrumpf auf Abenteuer zu begeben, auch Tommy und Annika habe ich toll ins Herz geschlossen, besonders mit Annika konnte ich mich gut identifizieren, da sie auch nicht die Mutigste war.
Nach dem Buch kam der Film, obwohl ich die ganzen Geschichten schon kannte, versäumte ich keine Folge. Natürlich kam es dabei manchmal zu Enttäuschungen, da meine Fantasie durch das Buch besonders inspiriert war. Allerdings die Lehrerin Prusseliese, die im Buch nicht vorkam und der respektlose Umgang Pippis mit ihr hatte mir geholfen, in der vierten Klasse den alten Herrn Direktor ohne größeren Traumas zu überstehen.
© HilivonLinde 2021-10-21