Nein, dies ist kein Ratgeber für Goldfische. (Sorry, an alle, die das geglaubt haben.)
Dies hier ist mein ganz persönliches Goldfischglas. Der schönste und gleichzeitig der schrecklichste Ort der Welt. Mein Gefängnis und meine Freiheit. Meine Stärke und meine Schwäche.
Aber beginnen wir doch ganz am Anfang: Als ich jünger war, besaß meine Familie ein Aquarium und ich hatte einen Heidenspaß daran, jedem einzelnen Fisch einen Namen zu geben. Leider sind Kugli und Kugli 2 relativ schnell abgenippelt. Was aus dem Rest geworden ist, nachdem meine fischige Phase zu Ende war, weiß ich bis heute nicht genau.
Ich erinnere mich aber noch, dass mein jüngeres Ich immer traurig darüber war, dass es sich in der Zoohandlung nie einen Goldfisch aussuchen durfte. Dieses Bilderbuchbeispiel vom Goldfisch im runden Glas hat doch jeder vor Augen, wenn er an Fische als Haustiere denkt. Dabei ist die Haltung in so einem kugeligen Glas aus vielen verschiedenen Gründen, allen voran dem Platzmangel, als Tierquälerei eingestuft. In Italien wurde es sogar offiziell verboten. Die Begründung dort hat jedoch wenig mit Platzmangel oder dem Sauerstoffgehalt im Wasser zu tun, denn den Italienern ist etwas ganz anderes wichtig: Durch das gebogene Glas hat man eine verzerrte Sicht der Realität.
Als mein durchgeknalltes Hirn diese Story zum ersten Mal hörte, begann es zu rattern. Die kleinen Zahnrädchen schoben sich ineinander, bunte Lichter blinkten im Takt von „Under the Sea“, meine grauen Zellen wurden ganz glibberig und irgendwo in einer Ecke schrie jemand. Das war der Moment, als mein Gehirn den verrücktesten Bogen aller Zeiten schlug, um die bescheuertste und genialste Metapher der Literaturgeschichte zu erfinden.
Lasst es mich erklären: Menschen haben Fantasie. Manche mehr, andere weniger. Fantasie gibt uns die Kraft, Dinge zu erschaffen oder in einem anderen Licht zu sehen, egal ob nun real oder fiktiv. Seien es ganze Welten oder nur ein Gespräch, das in der Dusche total anders verläuft als im realen Leben. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, ist diese grenzenlose Fantasie eigentlich sogar extrem begrenzt. Egal was wir uns vorstellen oder erfinden, alles orientiert sich irgendwo immer an der Realität, die wir kennen. Fantasie erschafft also nie wirklich etwas Neues, eher verzerrt sie die Realität. Womit wir wieder beim Goldfisch wären. Denn der nimmt die Realität durch die gekrümmten Wände auch nicht so war, wie sie wirklich ist, sondern total verzerrt. Alle Menschen mit etwas Fantasie hocken demnach immer mal wieder in einem Goldfischglas.
Nun lade ich euch ein, euch zu mir zu hocken und durch die runde Scheibe zu schauen. Für ein paar wundersame Kurzgeschichten, die eure Realität ordentlich verzerren werden.
Ladies and Gentlemen, willkommen in meinem Goldfischglas!
© Carolin Kusters 2023-10-14